Bundessozialgericht 12.12.2011, B 13 R 29/11 R
- Spruchkörper: 13. Senat
- Aktenzeichen: B 13 R 29/11 R
- 1. Instanz: Sozialgericht Speyer, Urteil vom 18.05.2010, Az. S 19 R 20/10
- 2. Instanz: Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 08.12.2010, Az. L 6 R 244/10
- 3. Instanz: Bundessozialgericht
- Entscheidungstyp: Urteil
- Entscheidungsdatum: 12.12.2011
- Rechtskraft: rechtskräftig
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über die Höhe der Altersrente.
Der am 5.10.1948 geborene Kläger beantragte am 1.9.2009 eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab 1.1.2010. Sein Beschäftigungsverhältnis endete nach einer Phase der Altersteilzeit zum 31.12.2009.
Bei Rentenantragstellung gab der Kläger an, er werde voraussichtlich bis zum Rentenbeginn "beitragspflichtige Einnahmen" in Form von "Arbeitsentgelt/Vorruhestandsgeld" erzielen; der "Vordruck R 250" solle durch den Rentenversicherungsträger angefordert werden. In der am Ende des - im Verfahren "Antrag-Online" bei der Stadtverwaltung Ludwigshafen am Rhein, Bürgerbüro und Sozialversicherung, ausgefüllten - Antragsformulars (R100) enthaltenen, vom Kläger unterschriebenen "Erklärung des Antragstellers" (nachfolgend: Vordruckerklärung) ist folgender Absatz enthalten:
"Ich willige ein (sofern ich im Abschnitt beitragspflichtige Einnahmen nichts anderes bestimmt habe), dass der Rentenversicherungsträger zur Beschleunigung des Rentenverfahrens
- frühestens drei Monate vor Rentenbeginn eine Meldung der beitragspflichtigen Einnahmen für abgelaufene Zeiträume vom Arbeitgeber anfordert,
- für den weiteren Zeitraum ggf. bis zum Rentenbeginn die entsprechenden voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahmen (maximal für 3 Monate) hochrechnet und
- diese der Rentenberechnung zugrunde legt.
Mir ist bekannt, dass kurzfristige Unterbrechungen der Beschäftigung im letzten Jahr von weniger als einem Kalendermonat sowie Sonderzahlungen in den letzten Monaten bis zum Rentenbeginn, die über die regelmäßigen Einmalzahlungen (wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld) hinausgehen, bei der Hochrechnung der Arbeitsentgelte nicht berücksichtigt werden können. Sollten die tatsächlichen beitragspflichtigen Einnahmen von den hochgerechneten Beträgen abweichen, können diese erst bei einer später zu zahlenden Rente berücksichtigt werden."
Die Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 29.10.2009 die beantragte Rente ab 1.1.2010 mit einem monatlichen Zahlbetrag von 1643,55 Euro (einschließlich eines Zuschusses zum Krankenversicherungsbeitrag in Höhe von 107,52 Euro). Bei ihrer Festsetzung legte sie für das vierte Quartal des Jahres 2009 (1.10. bis 31.12.2009) ein hochgerechnetes beitragspflichtiges Arbeitsentgelt in Höhe von 13 542 Euro zugrunde.
Den Widerspruch des Klägers vom 11.11.2009 mit der Begründung, dass die beitragspflichtige Einmalzahlung für November 2009 ("Weihnachtsgeld") in Höhe eines vollen Monatsgehalts nicht berücksichtigt worden sei, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 7.1.2010 zurück. Der Kläger habe bei Antragstellung in die Feststellung seiner Altersrente auf Grundlage einer Hochrechnung eingewilligt. Die Hochrechnung des voraussichtlichen beitragspflichtigen Arbeitsentgelts für das letzte Quartal des Jahres 2009 sei rechnerisch nicht zu beanstanden. Das tatsächlich in diesem Teilzeitraum erzielte höhere beitragspflichtige Arbeitsentgelt sei gemäß § 70 Abs 4 S 2 SGB VI nicht zu berücksichtigen.
Im Klageverfahren hat der Kläger unter Vorlage der Entgeltabrechnungen seines Arbeitgebers für die Zeit vom 1.10. bis 31.12.2008 ergänzend um Überprüfung der Berechnungsweise der Hochrechnung gebeten, da die Beklagte für dieses Quartal der Hochrechnung nicht das tatsächlich erzielte beitragspflichtige Entgelt in Höhe von 16 054,98 Euro, sondern lediglich 14 141,75 Euro zugrunde gelegt habe.
Das SG hat die Beklagte mit Gerichtsbescheid vom 18.5.2010 antragsgemäß verurteilt, dem Kläger unter Abänderung des Bescheids vom 29.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7.1.2010 ab 1.1.2010 eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen unter Berücksichtigung des im Zeitraum vom 1.10. bis 31.12.2009 tatsächlich erzielten beitragspflichtigen Arbeitsentgelts in Höhe von 16 756 Euro zu zahlen. Nach dem Wortlaut des § 70 Abs 4 S 2 SGB VI bestehe zwar kein Anspruch des Klägers auf Neuberechnung unter Berücksichtigung des tatsächlich erzielten Entgelts. Doch sei zum einen der angefochtene Rentenbescheid nicht bestandskräftig geworden. Zum anderen habe das BSG zu der im Wesentlichen gleichgerichteten Vorschrift des § 123 Abs 1 S 3 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) entschieden, dieser Norm sei nicht zu entnehmen, dass eine einmal erteilte Entgeltvorausbescheinigung jeglicher nachträglicher Korrektur entzogen sei (Hinweis auf BSG vom 16.11.1995 - BSGE 77, 77 = SozR 3-2200 § 1401 Nr 1). Diese Rechtsprechung habe das Bayerische LSG in seinem Urteil vom 13.8.2008 (L 13 R 58/08 = NZS 2009, 630) für § 70 Abs 4 S 2 SGB VI in seiner bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung als nahezu inhaltsgleiche Vorschrift zu § 123 Abs 1 S 3 AVG bestätigt. Eine abweichende Auslegung des § 70 Abs 4 S 2 SGB VI im Hinblick auf eine nachträgliche Korrekturmöglichkeit sei auch nach dessen Änderung zum 1.1.2008 nicht geboten. Denn der Gesetzgeber habe trotz Kenntnis der vorgenannten Rechtsprechung des BSG zu den Vorläuferbestimmungen auch diese Änderung nicht zum Anlass genommen, diesbezüglich klarstellende Ausführungen zu machen. Im Übrigen stelle die mit Unterschrift unter dem Rentenantrag erklärte Einwilligung des Klägers in die Vorgehensweise nach § 194 Abs 1, § 70 Abs 4 SGB VI keinen Verzicht iS des § 46 Abs 1 S 1 SGB I dar.
Das LSG hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 8.12.2010 zurückgewiesen. Zwar habe die Beklagte sich auf Grundlage der Bestimmung in § 70 Abs 4 S 2 SGB VI zu Recht nicht in der Lage gesehen, eine Neuberechnung nach dem tatsächlich gemeldeten beitragspflichtigen Arbeitsentgelt vorzunehmen. Dessen Nichtberücksichtigung für den hochgerechneten Zeitraum verstoße nicht gegen Verfassungsrecht. Der Kläger habe aber dennoch einen Anspruch auf Neufeststellung seiner Altersrente. Die Hochrechnung sei falsch, weil die Beklagte die Regelung des § 194 Abs 1 S 3 SGB VI falsch angewendet habe. Hiernach seien der Hochrechnung die vom Arbeitgeber gemeldeten beitragspflichtigen Einnahmen der letzten zwölf Kalendermonate (hier also die Monate Oktober 2008 bis September 2009) zugrunde zu legen. Für den Zeitraum von Januar bis September 2009 habe die Beklagte zwar die beitragspflichtigen Arbeitsentgelte aus der gesonderten Meldung des Arbeitgebers angesetzt, jedoch für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2008 lediglich einen aus dem gemeldeten Gesamtverdienst des Jahres 2008 errechneten Durchschnittsverdienst. Der auf diese Weise errechnete Betrag von 14 141,75 Euro stimme nicht mit dem für diesen Teilzeitraum tatsächlich erzielten und gemeldeten beitragspflichtigen Entgelt überein; dessen tatsächliche Höhe habe die Beklagte beim Arbeitgeber nicht ermittelt. Zudem habe der Kläger mit seinem Widerspruch, dass er mit der Hochrechnung nicht einverstanden sei, seinen Antrag auf Hochrechnung zurückgenommen. Dies sei auch noch möglich gewesen, weil der Rentenbescheid vom 29.10.2009 nicht bestandskräftig gewesen sei.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 194 Abs 1 und des § 70 Abs 4 SGB VI. Entgegen der Rechtsmeinung des LSG entspreche die von ihr vorgenommene Hochrechnung der Regelung des § 194 Abs 1 S 3 SGB VI; diese sehe keine gesonderte Ermittlung der beitragspflichtigen Einnahmen (hier: für den Zeitraum vom 1.10. bis 31.12.2008) vor. Daher seien bei der Hochrechnung nicht die tatsächlich in dem Zeitraum vom 1.10. bis 31.12.2008 erzielten beitragspflichtigen Einnahmen zu berücksichtigen. Vielmehr ergäben sich die beitragspflichtigen Einnahmen für diesen Teilzeitraum aus einem Durchschnittsbetrag, der sich aus den für das Kalenderjahr 2008 dem Rentenversicherungsträger in der Jahresmeldung mitgeteilten beitragspflichtigen Einnahmen errechne. Müsste die Beklagte im Zwölf-Kalendermonats-Zeitraum die tatsächlichen beitragspflichtigen Einnahmen für Oktober bis Dezember 2008 berücksichtigen, wären hierfür Ermittlungen beim Arbeitgeber erforderlich. Dies widerspräche aber gerade dem Sinn und Zweck der Regelung des § 194 SGB VI, da der Arbeitgeber von der Verpflichtung zur Ausstellung von Entgeltbescheinigungen entlastet werden sollte (Hinweis auf BT-Drucks 16/4391 S 40).
Entgegen der Rechtsmeinung des LSG liege auch keine wirksame Rücknahme des Antrags auf Hochrechnung vor. Zwar könne ein Rentenantrag bis zum Eintritt der Bindungswirkung des Rentenbescheids zurückgenommen werden; dies betreffe aber nur den Rentenantrag insgesamt. Die Einwilligung zur Hochrechnung der beitragspflichtigen Einnahmen und der Rentenantrag seien als Einheit zu sehen und könnten nicht als zwei voneinander unabhängige Anträge betrachtet werden. Die Einlegung eines Widerspruchs gegen die Hochrechnung regelmäßig mit einem Antrag auf Rücknahme des Rentenantrags gleichzusetzen und diesen ggf sogar als einen erneuten Antrag auf Altersrente zu werten, würde das Neufeststellungsverbot des § 70 Abs 4 S 2 SGB VI ad absurdum führen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. Dezember 2010 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 18. Mai 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Nach einer auf Bitte des Senats durchgeführten Probeberechnung der Beklagten würde sich bei Berücksichtigung der tatsächlich erzielten beitragspflichtigen Entgelte für das letzte Quartal 2009 eine um monatlich 2,64 Euro höhere Rente ergeben; setzte man dagegen in die Hochrechnung die vom Arbeitgeber für Oktober bis Dezember 2008 bescheinigten beitragspflichtigen Arbeitsentgelte ein, würde sich die Altersrente nur um 0,40 Euro erhöhen.