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Landessozialgericht Hessen vom 26.11.2010, Az. L 5 R 363/08 KN

  • Akteinzeichen: L 5 R 363/08 KN
  • Spruchkörper: 5. Senat
  • Instanzenaktenzeichen: S 6 KN 82/05
  • Instanzgericht: Sozialgericht Gießen
  • Gericht: Hessisches Landessozialgericht
  • Entscheidungstyp: Urteil
  • Entscheidungsdatum: 26.11.2010

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch sechstes Buch (SGB VI).

Der 1955 geborene Kläger ist als Spätaussiedler am 18. Oktober 1989 von Polen in die Bundesrepublik Deutschland zugezogen. In Polen hat er nach eigenen Angaben den Beruf des Zimmermanns und Tischlers erfolgreich erlernt und bis 1984 ausgeübt (davon ein Jahr als Zimmermann im Kohlebergbau); hiernach war er bis zu seiner Ausreise als Rangierer im Bahnbetrieb beschäftigt. In der Bundesrepublik Deutschland ist er von August 1990 bis August 1992 einer Tätigkeit als Hochbaufachwerker nachgegangen. Im August 1992 erlitt der Kläger einen Arbeitsunfall. Das letzte Arbeitsverhältnis des Klägers wurde nach vorangegangener Arbeitsunfähigkeit mit Aufhebungsvertrag vom 30. Juni 1994 mit Wirkung zum 31. Juli 1994 beendet, wobei sich die Vertragsparteien einig waren, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erfolgte, weil der Kläger seiner bisherigen Tätigkeit als Hochbaufachwerker aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr nachgehen könne. Seitdem ist der Kläger einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgegangen.

Einen im Jahre 1995 vom Kläger gestellten Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte die damals zuständige Landesversicherungsanstalt Hessen (nunmehr Deutsche Rentenversicherung – DRV – Hessen) nach medizinischen Ermittlungen und Einholung einer Anfrage an den letzten Arbeitgeber des Klägers - wonach er als Hochbaufachwerker mit einer Anlernzeit von weniger als drei Monaten tätig war - mit der Begründung ab (Bescheid vom 4. Dezember 1995 und Widerspruchsbescheid vom 30. Dezember 1996), ein zeitlich herabgesunkenes Leistungsvermögen sei bei dem Kläger nicht festzustellen. Das nachfolgende Klageverfahren blieb für den Kläger erfolglos (Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 19. März 1998, Az.: S 7 J 115/97). In einem Vergleich der Beteiligten vom 24. April 1999, der das sich anschließende Berufungsverfahren vor dem Hessischen Landessozialgericht beendete, verpflichtete sich die damalige Beklagte, dem Kläger berufliche Leistungen zur Rehabilitation zu bewilligen, bevor über einen Rentenanspruch von der damaligen Beklagten abschließend entschieden werden sollte. Die Teilnahme an der sodann mit Bescheid vom 2. Mai 2000 bewilligten zehnmonatigen beruflichen Integrationsmaßnahme im Berufsförderungswerk ZW. lehnte der Kläger in der Folge jedoch ab, da er sich aus gesundheitlichen Gründen zur Teilnahme nicht im Stande sah. Mit abschließenden Bescheiden vom 5. Juli 2000 und 18. September 2001 lehnte die Landesversicherungsanstalt Hessen die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Erwerbsminderung ab; der den gegen die Ablehnungsbescheide gerichteten Widerspruch des Klägers zurückweisende Widerspruchsbescheid vom 19. August 2002 blieb unangefochten.

Mit seinem am 14. Juni 2004 bei der Beklagten gestellten Antrag begehrte der Kläger Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung. In einem von der Beklagten in Auftrag gegebenen Gutachten gelangte ihr Sozialmedizinischer Dienst (Dr. U.) am 8. November 2004 nach Untersuchung des Klägers zu der Einschätzung, der Kläger sei noch in der Lage, wenigstens sechs Stunden arbeitstäglich erwerbstätig zu sein. Sein Leistungsvermögen sei lediglich durch ein leichtes degeneratives Hals- und Lendenwirbelsäulen-Syndrom, eine leichtgradige Periarthropathie der linken Schulter, durch eine Belastungshypertonie, durch eine Presbyopie und eine Hypercholesterinämie herabgemindert. Dies begründe nur qualitative Einschränkungen seines Leistungsvermögens. Mit Bescheid vom 12. Januar 2005 lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag des Klägers auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ab. Auch sei der Kläger nicht berufsunfähig, da er – selbst wenn er seinen zuletzt ausgeübten Hauptberuf als Hochbaufachwerker nicht mehr ausüben könne – auch als Serienprüfer im Wareneingang, als Auslieferungsfahrer im Arzneimittelgroßhandel oder als Auszeichner und Kontrollierer von Waren nach einfachen Ordnungsmerkmalen im Groß- und Außenhandel tätig sein könne. Mit seinem am 10. Februar 2005 erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, dass seine schwere Depression zur vollen Erwerbsminderung geführt habe. Zudem könne er den Beruf des Hochbaufachwerkers nicht mehr ausüben und sei bereits aufgrund seines Lebensalters arbeitspsychologisch nicht mehr in der Lage, sich auf andere Tätigkeiten umzustellen. Mit Widerspruchsbescheid vom 12. April 2005 wies die Beklagte ohne weitere Ermittlungen den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück.

Der Kläger erhob am 23. Mai 2005 Klage zum Sozialgericht Gießen. Das Sozialgericht hat von Amts wegen Befundberichte des Facharztes für Orthopädie Dr. IM. vom 18. August 2005 und des ambulanten Neuro-Zentrums A. (Dr. Z.) vom 24. August 2005 beigezogen. Mit Urteil vom 21. Oktober 2008 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Kläger sei nach dem vom Sozialmedizinischen Dienst der Beklagten am 8. November 2004 erstellten und überzeugenden Gutachten des Facharztes für Arbeitsmedizin Dr. U. in der Lage, wenigstens sechs Stunden arbeitstäglich zumindest leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben. Auch sei der Kläger nicht berufsunfähig im Sinne von § 240 SGB VI.

Gegen das am 10. November 2008 zugestellte Urteil hat der Kläger am 10. Dezember 2008 Berufung eingelegt.

Der Senat hat zur weiteren Sachaufklärung von Amts wegen zwei fachärztlich-medizinische Sachverständigengutachten über den Kläger auf orthopädischem und neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet und ferner ein psychologisches Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben. In seinem nach körperlicher Untersuchung des Klägers am 23. Juni 2009 erstatteten Sachverständigengutachten vom 6. Juli 2009 hat der Facharzt für Orthopädie Dr. C. die Diagnosen eines chronifizierten Schmerzsyndromes, eines nativradiologischen Verdachtes auf Osteopenie und einen Zustand nach Frakturen des Lendenwirbelkörpers 2/1 und des Brustwirbelkörpers 12 bzw. Sinterungen und darüber hinaus eine arterielle Hypertonie sowie – nach Angaben des Klägers selbst – eine ekzematische Hauterkrankung sowie ferner nach Aktenlage eine Depression gestellt. Nach dem weitgehend auf orthopädischem Fachgebiet unauffälligen Untersuchungsbefund des Klägers seien ihm noch leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten wenigstens sechs Stunden und mehr arbeitstäglich mit qualitativen Einschränkungen zuzumuten, wobei der Kläger lediglich Arbeiten ohne das Heben und Tragen von schweren Lasten von mehr als 7 kg und ohne Zwangshaltungen für die Wirbelsäule durchführen könne. Allerdings sei der Kläger in seinem Beruf als Zimmermann bzw. Tischler nicht mehr leistungsfähig. Im Sachverständigengutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. D. vom 10. September 2009 nach einer Untersuchung des Klägers am 4. September 2009 gelangte der neurologisch-psychiatrische Sachverständige unter Berücksichtigung eines psychologischen Zusatzgutachtens der Dipl.-Psychologin F. nach psychologischer Testdurchführung am 8. September 2009 zu der Einschätzung, der Kläger leide an einer somatoformen Schmerzstörung und an einer leichten depressiven Symptomatik, wobei beiden Erkrankungen ein erwerbsmindernder Dauereinfluss nicht zukomme, der Kläger somit noch in der Lage sei, wenigstens sechs Stunden arbeitstäglich erwerbstätig zu sein. Die Untersuchung habe auf ein leichtes hirnorganisches Psychosyndrom hingewiesen, wobei jedoch lediglich Fehler im Bereich der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses aufgefallen seien. Probleme seien beim Kläger im Umgang mit numerischem Material aufgetreten sowie aufgrund des bei ihm festzustellenden niedrigen Intelligenzniveaus. Nach den Befunden der psychologischen Testung sei der Kläger als überdurchschnittlich gehemmt, emotional labil, empfindlich und ängstlich einzustufen. Anhaltspunkte für eine organische Störung im neurologischen Bereich hätten sich nicht ergeben. Das chronifizierte somatoforme Schmerzerleben sei nicht derart gravierend, dass es dem Kläger eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht gestatte. In seinem psychologischen Sachverständigengutachten vom 28. April 2010 nach Befragung und psychologischer Testung des Klägers am 9. Dezember 2009 gelangte der Dipl.-Psych. E. zu der Einschätzung, dass der Kläger auf psychologischem Fachgebiet bedeutsame Hinweise auf Störungen in der sozialen Anpassungsfähigkeit, auf eine verminderte emotionale Belastbarkeit, auf depressiv gereizte Verstimmungszustände, auf einen deutlichen intellektuellen Leistungsmangel mit drastisch reduzierter Umstellfähigkeit sowie erhebliche konzentrative Leistungseinschränkungen aufweise. Der Kläger verfüge nicht mehr über eine ausreichende Fähigkeit, sich auch nur auf eine leichte Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes umzustellen bzw. sich an solch eine Tätigkeit anzupassen. Diese Beurteilung erstrecke sich auf den Zeitraum seit Rentenantragstellung im Juni 2004. Auch bestünden keine begründeten Aussichten, dass sich die auf psychologischem Fachgebiet festgestellten Beeinträchtigungen mit Auswirkungen auf das Leistungsvermögen beheben oder bessern ließen.

Zur Begründung der Berufung nimmt der Kläger Bezug auf seine bereits bei der Beklagten im Laufe des Klageverfahrens geäußerte Auffassung, dass ihm Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in gesundheitlicher Hinsicht nicht mehr zumutbar seien. Die bei ihm bestehende Depression, das chronifizierte Schmerzsyndrom sowie seine orthopädischen Erkrankungen und seine Beeinträchtigung auf internistischem Fachgebiet stünden einer Arbeitsleistung insgesamt entgegen. Darüber hinaus bestünde keine Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Insgesamt sei er daher in vollem Umfange bereits seit Rentenantragstellung erwerbsgemindert. Die gegenteilige Einschätzung der Beklagten, die sich auf die Ausführungen ihrer Beratungsärztin Dr. med. G. stütze, sei hingegen nicht zutreffend, denn der Kläger sei nicht in der Lage, willentlich die Ausübung einer Erwerbstätigkeit steuern zu können.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 21. Oktober 2008 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Januar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. April 2005 zu verurteilen, ihm ab dem 1. Juni 2004 Rente wegen voller,

hilfsweise

wegen teilweiser Erwerbsminderung bzw. Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit, zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält zum einen an ihrem Vorbringen im Verwaltungs-, Widerspruchs- und Klageverfahren fest. Auch durch die weiteren Ermittlungen des Berufungsgerichtes sei eine Erwerbsminderung des Klägers nicht erwiesen. Nach den Ausführungen ihres beratungsärztlichen Dienstes (Dr. med. G., Fachärztin für Innere Medizin, Sozialmedizin und Ernährungsmedizin), die sich die Beklagte für ihren Vortrag zu eigen macht, sei der Kläger nach dem Ergebnis der medizinischen Sachverständigengutachten in der Lage, wenigstens sechs Stunden arbeitstäglich zumindest leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Insbesondere das psychologische Zusatzgutachten der Dipl.-Psychologin F. zum Sachverständigengutachten des Dr. med. D. lasse eine verminderte Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bei dem Kläger nicht erkennen, woran auch das psychologische Gutachten des Dipl.-Psych. E. vom 28. April 2010 nichts ändern könne. Denn dieser setze sich mit den Feststellungen der Vorsachverständigen nur in unzureichender Weise auseinander. Zutreffend sei vielmehr die Leistungseinschätzung von Dr. med. D. in seinem Sachverständigengutachten, so dass die Feststellungen des psychologischen Sachverständigen Dipl.-Psych. E. nicht geeignet seien, den Nachweis darüber zu führen, dass eine Erwerbsminderung des Klägers aufgrund mangelnder Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit eingetreten sei. Der Kläger könne vielmehr willentlich eine Steuerung seiner Erwerbstätigkeit herbeiführen. Zur weiteren Klärung sei daher zumindest eine ergänzende Stellungnahme des nervenärztlichen Gutachters Dr. med. D. in das Ermessen des Gerichts zu stellen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Rentenakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

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