Landessozialgericht Hessen 29.02.2008, L 5 R 195/06
- Aktenzeichen: L 5 R 195/06
- Spruchkoerper: 5. Senat
- Instanzenaktenzeichen: S 4 RA 1167/03
- Instanzgericht: Sozialgericht Wiesbaden
- Gericht: Hessisches Landessozialgericht
- Entscheidungstyp: Urteil
- Entscheidungsdatum: 29.02.2008
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die (teilweise) Rücknahme eines Bescheids über die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente (Bescheid vom 22. April 2002) und die Erstattung eines Teilbetrages in Höhe von 5.000,00 Euro einer für den Zeitraum vom 1. Januar 2001 bis zum 28. Februar 2003 entstandenen Überzahlung in Höhe von insgesamt 10.584,00 Euro streitig.
Der 1941 geborene Kläger verfügt nach eigenen Angaben über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Von Dezember 1960 bis März 1961 befand er sich in einem Ausbildungsverhältnis als Kfz-Mechaniker, von April 1961 bis Dezember 1961 leistete er seinen Militärdienst ab, von Dezember 1961 bis Januar 1962 arbeitete er wiederum als Kfz-Mechaniker, von Oktober 1962 bis Mai 1963 als Gärtner, von 1963 bis Dezember 1973 als Automechaniker und war zuletzt seit Januar 1974 als Croupier bei der Spielbank in A-Stadt beschäftigt.
Vom 20. Juli 2000 bis zum 28. Dezember 2000 bezog der Kläger Leistungen von der Krankenkasse sowie vom 29. Dezember 2000 bis zum 24. August 2003 Arbeitslosengeld von der Agentur für Arbeit in X (vormals Arbeitsamt X). Am 2. August 2000 beantragte der Kläger die Gewährung einer Erwerbminderungsrente. Nachdem die Beklagte den Antrag des Klägers zunächst mit Bescheid vom 8. November 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2001 abgelehnt hatte, erkannte sie in einem anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Wiesbaden (Az.: S 1 RA 249/01) ausgehend von einem Rentenbeginn ab 1. März 2000 das Vorliegen von Berufsunfähigkeit mit Rentenzahlung ab 20. Juli 2000 an. Mit am 9. August 2001 beim Sozialgericht eingegangenen Schriftsatz nahm der Prozessbevollmächtigte des Klägers das (Teil-)Anerkenntnis an und erklärte den Rechtsstreit im Übrigen für erledigt.
Das Anerkenntnis vom 26. Juli 2001 führte die Beklagte mit Bescheid vom 22. April 2002 aus und setzte eine monatliche Rente in Höhe von 626,56 Euro sowie einen Nachzahlungsbetrag in Höhe von 13.266,20 Euro für die Zeit vom 20. Juli 2000 bis zum 30. April 2003 fest. Der Bescheid, der dem Prozessbevollmächtigten – wie zwischen den Beteiligten nicht mehr streitig ist – zugestellt und von diesem an den Kläger weitergeleitet wurde, enthielt auf Seite 3 (Bl.: 226 Verwaltungsakte) den Hinweis, dass die Nachzahlung zunächst einbehalten werde, weil die Ansprüche anderer Stellen, z.B. Krankenkasse, Arbeitsamt, Träger der Sozialhilfe, Arbeitgeber, die im Nachzahlungszeitraum bereits Zahlungen geleistet haben, abschließend zu klären seien. Anlage 19, auf die u. a. auf Seite 5 des Bescheides (Bl.: 227 Verwaltungsakte) hingewiesen wurde, stellte die Hinzuverdienstgrenzen dar. U. a. war dort der Hinweis enthalten, dass sich die Hinzuverdienstgrenze bei einer Rente wegen Berufsunfähigkeit u. a. bei Bezug von Arbeitslosengeld daraus ergebe, dass die Entgeltpunkte des letzten Kalenderjahres vor Eintritt der Berufsunfähigkeit, mindestens jedoch 0,5 Entgeltpunkte, mit einem Vielfachen des aktuellen Rentenwerts vervielfältigt werden. Des Weiteren findet sich dort der Hinweis, dass ausgehend von einem aktuellen Rentenwert in Höhe von 25,31406 Euro für die alten Bundesländer für die Zeit ab 4. April 2002 die monatliche Hinzuverdienstgrenze in voller Höhe das 52,5fache des maßgebenden aktuellen Rentenwertes vervielfältigt mit den Entgeltpunkten 2.273,50 Euro, in Höhe von zwei Dritteln das 70fache des maßgebenden aktuellen Rentenwertes vervielfältigt mit den Entgeltpunkten für die alten Bundesländer 3.031,33 Euro und in Höhe von einem Drittel das 87,5fache des maßgebenden aktuellen Rentenwertes, vervielfältigt mit den Entgeltpunkten 3.789,17 Euro betragen habe.
Auf die Anfrage der Beklagten hinsichtlich des Leistungsbezugs des Klägers ab 19. Dezember 2000 hatte die Agentur für Arbeit A-Stadt bereits mit Schreiben vom 19. März 2002 die Höhe des Bemessungsentgelts sowie der Alg-Leistungen mitgeteilt. Danach ergab sich für den Zeitraum vom 29. Dezember 2000 bis zum 31. Dezember 2000 ein wöchentliches Arbeitslosengeld in Höhe von 508,20 DM, vom 1. Januar 2001 bis zum 28. Dezember 2001 in Höhe von 525,07 DM, vom 29. Dezember bis zum 31. Dezember 2001 in Höhe von 530,11 DM sowie vom 1. Januar 2002 bis zuletzt ein wöchentliches Arbeitslosengeld in Höhe von 271,11 Euro.
Die Beklagte hörte den Kläger mit Schreiben vom 29. Juli 2002 (Bl.: 307 Verwaltungsakte) dazu an, dass mit dem Bezug von Arbeitslosengeld die Hinzuverdienstgrenzen für eine Vollrente überschritten worden seien und daher nach § 96a SGB VI der Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit kraft Gesetzes zu kürzen sei, weshalb ab 1. Oktober 2002 lediglich ein Rentenanspruch in Höhe von 212,21 Euro laufend zu zahlen gewesen sei. Daher sei eine Überzahlung für die Zeit vom 1. Januar 2001 bis zum 30. September 2002 in Höhe von 8.462,11 Euro entstanden, die vom Kläger zurückgefordert würden.
Mit Bescheid vom 27. Januar 2003 stellte die Beklagte die Höhe des monatlichen Einzelanspruchs auf Rente entsprechend neu fest: Ab 1. März 2003 wurde der Rentenzahlbetrag auf 212,21 Euro sowie die der Überzahlungsbetrages für die Zeit vom 20. Juli 2000 bis zum 28. Februar 2003 in Höhe von 10.584,00 Euro festgestellt. Zugleich nahm die Beklagte den Bescheid vom 22. April 2002 in den ergänzenden Begründungen zu diesem Bescheid (Bl. 364 Verwaltungsakte) insoweit mit Wirkung für die Vergangenheit zurück, als für die Zeit ab 1. Januar 2001 trotz Hinzuverdienstes neben einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit § 96a SGB VI nicht zur Anwendung gekommen ist. Der danach geschuldete Erstattungsbetrag in Höhe von 10.584,00 Euro wurde unter Hinweis auf § 51 SGB I mit der noch einbehaltenen Nachzahlung aus dem Bescheid vom 22. April 2002 in Höhe von 13.266,20 Euro aufgerechnet, so dass nur noch ein Nachzahlungsbetrag in Höhe von 2.682,20 Euro verbleibe, der ebenfalls wegen etwaiger Ersatzansprüche Dritter Stellen einbehalten bleibe. Die Beklagte begründete dies damit, dass der Kläger sich nicht auf Vertrauensschutz berufen könne, weil er die Rechtswidrigkeit des Bescheides habe erkennen können, in dem auf die Rechtsfolgen des Hinzuverdienstes hingewiesen worden sei. Auch im Rahmen eines auszuübenden Ermessens ergebe sich keine andere Entscheidung, da der Kläger nicht darauf habe vertrauen können, dass ihm die Nachzahlung im Hinblick auf die Erstattungsansprüche von Krankenkassen und Arbeitsamt zur Verfügung stehe.
Der hiergegen am 26. Februar 2003 erhobene Widerspruch, den der Kläger im Wesentlichen damit begründete, er habe nichts von der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 22. April 2002 gewusst sowie sei aufgrund einer Schenkung zugunsten seines Sohnes in Höhe von 5.000,00 Euro nicht mehr bereichert, wurde mit Widerspruchsbescheid vom 16. September 2003 zurückgewiesen. Durch entsprechende Hinweise im Bescheid sei dem Kläger bekannt gewesen, dass auf die Rente Leistungen des Arbeitsamtes anzurechnen seien.
Auf die hiergegen am 11. Oktober 2003 erhobene Klage, die der Kläger auf die Höhe des Schenkungsbetrages von 5.000,00 Euro an seinen Sohn begrenzte, hat das Sozialgericht Wiesbaden mit durch Urteil vom 11. Mai 2006 den Bescheid der Beklagten vom 27. Januar 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. September 2003 insoweit aufgehoben, als der festgestellte Erstattungsbetrag 5.584,00 Euro übersteige. Die angefochtenen Bescheide seien rechtswidrig, soweit die Beklagte den rentengewährenden Bescheid vom 22. April 2002 für die Zeit vor seinem Erlass rückwirkend teilweise zurückgenommen habe. Eine rückwirkende Rücknahme komme nach § 45 Abs. 2 SGB X nur in Betracht, wenn sich der Begünstigte nicht auf Vertrauensschutz berufen könne, was nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Ziffer 3 SGB X dann der Fall sei, wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Im vorliegenden Fall ließe sich keine positive Kenntnis der Rechtswidrigkeit des Bescheides begründen, auch habe der Kläger nicht bewusst falsche Angaben gemacht oder leistungserhebliche Umstände verschwiegen. Darüber hinaus liege aber auch keine grobe fahrlässige Unkenntnis der Teilrechtswidrigkeit des Bescheides vom 22. April 2002 vor, weil sich dazu die Rechtswidrigkeit ohne weitere Nachforschungen aus dem Bescheid selbst ergeben und anhand ganz naheliegender Überlegung auffallen müsse, dass dieser fehlerhaft ist. Dies sei bei komplizierten Berechnungen ohne erklärenden Langtext in der Regel nicht der Fall. Zwar habe die Beklagte im Bescheid vom 22. April 2002 auf die gesetzliche Regelung der Berechnung der Hinzuverdienstgrenzen hingewiesen, jedoch sei diese Grenze im konkreten Einzelfall lediglich für die Zeit ab 4. April 2002 angegeben worden, nicht aber für die Zeit ab der erfolgten Rücknahme ab 1. Januar 2001. Unabhängig davon, dass die wesentliche Ursache der Unrichtigkeit bei der Behörde liege, sei im Hinblick auf die Kompliziertheit der Berechnung der Hinzuverdienstgrenze für den Kläger nicht erkennbar gewesen, dass diese für die zurückliegende Zeit vor 4. April 2002 überschritten gewesen und von der Beklagten trotz Kenntnis vom Alg-Bezug nicht beachtet worden sei. Hieran ändere auch nichts die anwaltliche Vertretung des Klägers, weil diese sich lediglich auf die Anerkennung einer Erwerbsminderungsrente dem Grunde nach bezogen habe, dieses Verfahren jedoch mit dem Anerkenntnis der Beklagten geendet habe. Für die Zeit ab 4. April 2002 liege hingegen grobe Fahrlässigkeit des Klägers vor, weil im Bescheid vom 22. April 2002 die Beklagte von dort aus betrachtet für die Zukunft explizit aufgelistet habe, wie hoch der monatliche Hinzuverdienst im Einzelnen zu beziffern sei, und ab diesem Zeitpunkt der Kläger habe erkennen können, dass ihm die Rente in ursprünglich gewährter Höhe nicht zustehe. Somit habe die Beklagte lediglich ab Mai 2002 zurückfordern können mit der Folge, dass lediglich ein Rückforderungsbetrag in Höhe von 4.230,50 Euro hätte geltend gemacht werden dürfen anstelle der ursprünglich geforderten 10.584,00 Euro.
Gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 11. Mai 2006, das der Beklagten gegen Empfangsbekenntnis vom 8. Juni 2006 zugestellt worden ist, richtet sich die mit Schriftsatz vom 30. Juni 2006 – eingegangen beim Hessischen Landessozialgericht am 4. Juli 2006 – eingelegte Berufung der Beklagten.
Sie ist der Auffassung, dass dem Kläger die Rechtswidrigkeit des aufgehobenen Verwaltungsaktes vom 22. April 2002 nur aufgrund grober Fahrlässigkeit nicht bekannt gewesen sei. So sei das "Erkennen müssen" unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Persönlichkeit des Betroffenen und seines Verhaltens zu entscheiden. Dem Kläger sei der Arbeitslosengeldbezug und dessen Höhe bekannt gewesen. Der Bescheid vom 22. April 2002 habe sowohl den Hinweis enthalten, dass Hinzuverdienstgrenzen beim gleichzeitigen Bezug von Rente wegen Berufsunfähigkeit und Sozialleistungen, wie z.B. Arbeitslosengeld I, zu beachten seien, sowie auch die Darstellung, wie sich die Hinzuverdienstgrenzen berechneten. Auch die Ermittlung der Hinzuverdienstgrenzen ab 1. Juli 2001 sei unproblematisch möglich gewesen, da diese dieselbe sei, wie sie auch ab dem 4. April 2002 gegolten habe. Jeder Versicherte habe bei Erhalt eines Rentenbescheides oder anderer Mitteilungen von Versicherungsträgern die Verpflichtung, deren Rechtmäßigkeit soweit zu überprüfen, wie es ihm ohne Spezialkenntnisse sozialrechtlicher Vorschriften möglich sei, was insbesondere dann gelte, wenn Leistungen anderer Leistungsträger bezogen worden seien. Bei einfachsten Gedankenüberlegungen sei für jeden Versicherten erkennbar, dass ein Doppelbezug von Sozialleistungen verschiedener Leistungsträger für den gleichen Zeitraum regelmäßig nicht in Betracht komme bzw. von der Einhaltung bestimmter Hinzuverdienstgrenzen abhängig sei. Dies gelte umso mehr, wenn nicht nur auf die Person des Klägers, sondern auf die seines Bevollmächtigten abgestellt werde. Zu Unrecht sei das Sozialgericht in vorliegendem Fall davon ausgegangen, dass der Kläger bei Erteilung des Bescheides am 22. April 2002 nicht mehr anwaltlich vertreten gewesen sei. Die im Widerspruchsverfahren mit Schriftsatz vom 24. November 2000 im Rahmen einer Anerkennung einer Erwerbsminderungsrente überreichte Vollmacht sei zu keiner Zeit widerrufen worden und habe auch keinerlei Einschränkungen beinhaltet. Vielmehr habe sie ausdrücklich die Entgegennahme von Zustellungen sowie Neben- und Folgeverfahren aller Art umfasst.
Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 11. Mai 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er bezieht sich zur Begründung im Wesentlichen auf die Urteilsgründe des Sozialgerichts Wiesbaden. Für die Beurteilung der Frage, ob grobe Fahrlässigkeit vorliege, sei allein auf die Person des Klägers und nicht auf die seines Prozessbevollmächtigten abzustellen, da der Kläger zum Zeitpunkt des Erhalts des Rentenbescheides nicht anwaltlich vertreten gewesen sei. Die Mandatierung aus dem Verfahren um die Anerkennung einer Erwerbsminderungsrente dem Grunde nach sei spätestens mit der Kostenerstattung durch die Beklagte beendet gewesen, was das an den Kläger gerichtete Abschlussschreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 26. November 2001 belege (Bl.: 105 Gerichtsakte). Soweit auch zeitlich nachfolgend Post an den Kläger weitergeleitet worden sei, sei dies allein aus Kulanz und ohne inhaltliche juristische Prüfung geschehen. Eine rechtliche Beratung habe nicht mehr stattgefunden. Erst nach Erhalt des Schreibens der Beklagten vom 29. Juli 2002 (Anhörung) habe der Kläger seinen Prozessbevollmächtigten erneut damit beauftragt, für ihn tätig zu werden. Dass die vom Kläger erteilte Vollmacht gegenüber der Beklagten nicht ausdrücklich nach § 13 Abs. 1 Satz 4 SGB X widerrufen worden ist, sei nur für das Außenverhältnis bedeutsam, während dem Innenverhältnis dieses Vertretungsverhältnisses bereits beendet worden sei. Schließlich belege die nochmalige Übersendung der Vollmacht mit Schreiben vom 21. August 2002, dass auch der Prozessbevollmächtigte von einer Beendigung des ursprünglichen Mandatsverhältnisses ausgegangen sei. Ferner gehe die Beklagte in einer Informationsbroschüre "BfA-Tipps für Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit", 6. Auflage 2002, S. 18, selbst davon aus, dass die Berechnung der Hinzuverdienstgrenzen nicht einfach sei, weshalb diese beim jeweiligen zuständigen Rentenversicherungsträger erfragt werden sollten. Eine grobe Fahrlässigkeit des Klägers habe daher nicht vorgelegen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Verwaltungs- und Gerichtsakten.