Landessozialgericht Hessen 16.06.2015, L 3 U 141/10
- Aktenzeichen: L 3 U 141/10
- Spruchkörper: 3. Senat
- Instanzenaktenzeichen: S 3 U 104/07
- Instanzgericht: Sozialgericht Gießen
- Gericht: Hessisches Landessozialgericht
- Entscheidungstyp: Urteil
- Entscheidungsdatum: 16.06.2015
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten, ob eine berufliche Exposition gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen zu einer Lebererkrankung des Klägers geführt hat und deshalb eine Berufskrankheit nach Nummer 1302 Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) festzustellen und zu entschädigen ist.
Der 1948 geborene Kläger wurde von April 1962 bis Dezember 1967 zum Maler und Lackierer ausgebildet. In diesem Beruf war er bis 21. November 1970 tätig, unterbrochen durch eine Tätigkeit im Sanitätsdienst bei der Bundeswehr in der Zeit von Januar 1968 bis Juni 1969. Am 23. November 1970 begann er seine Tätigkeit bei der heutigen CW. AG in C-Stadt. Von Januar 1972 bis Juli 1972 war der Kläger arbeitsunfähig. Es wurde ein Magengeschwür diagnostiziert. Im Rahmen einer laborchemischen Untersuchung des Blutes wegen Druckgefühl im rechten Oberbauch wurde ein Anstieg der Leberwerte festgestellt. In der Personalakte des Klägers fand sich 2006 von dem Kläger ein Vermerk des Betriebsarztes vom 22. August 1972, in dem ausgeführt wird, der Kläger sei "weiterhin als Kranfahrer geeignet aber ohne Gas-, Dämpfe- (Tri, Chlorot. usw.) u. Säure - sowie Öldämpfegefährdungen." Im Juni 2005 musste sich der Kläger wegen eines Gallensteins im Gallengang und einer Gallenstauung in stationäre Behandlung des Gesundheitszentrums Dill-Kliniken begeben. Im Rahmen dieses Krankenhausaufenthaltes wurde eine Leberzirrhose unklarer Genese diagnostiziert. Anlässlich der OP zur Entfernung der Gallenblase wurde ein Leberbiopsat entnommen, das von Prof. Dr. D., Institut für Pathologie am Universitätsklinikum Gießen, histologisch untersucht wurde. Er diagnostizierte ein komplett umgebautes Leberparenchym. Zu den vorgefundenen fein-granulären Eisenpigmenten führte er aus, das typische Bild einer Hämochromatose liege nicht vor, die hepatozellulären Siderinpigmenteinlagerungen ließen am ehesten an eine funktionelle Reaktion infolge der Leberzirrhose denken. Eine genetische Untersuchung in der Abteilung Hämatologie und Onkologie am 28. Februar 2006 führte zu dem Ergebnis, dass die genetische Konstellation nicht zum klinischen Bild einer Hämochromatose führt.
Am 30. März 2006 erstattete die Hausärztin des Klägers Dr. E. eine ärztliche Anzeige bei Verdacht auf einen durch Lösemittel verursachten Leberschaden als Berufskrankheit und teilte mit, anamnestisch bestünden seit 1972 rezidivierende Oberbauchbeschwerden, erhöhte Transaminasen. 2005 sei histologisch eine Leberzirrhose unklarer Genese gesichert worden.
Am 31. Juli 2006 suchte der Mitarbeiter der Präventionsabteilung, Fachstelle "Gefährliche Arbeitsstoffe", Dr. F., die Firma CW. GmbH in C-Stadt auf. Zum Ergebnis der Ermittlungen führte er in einem Bericht vom 4. August 2006 aus: Der Kläger habe von November 1970 bis 1976 als Springer verschiedene Portalkräne gefahren. Die Kanzeln hätten sich 6-8 m über Flur befunden und seien nicht klimatisiert gewesen. Zur besseren Verständigung und aufgrund besserer Sichtverhältnisse seien die Tür oder ein Fenster geöffnet gewesen. Der Kläger sei als Kranfahrer in verschiedenen Produktionshallen im Bereich der Kaltbandlinie eingesetzt gewesen. Dabei handele es sich jeweils um große Hallen (über 100 m lang, 40 m breit und 8 m hoch), die damals lediglich über offene Tore be- und entlüftet worden seien. Technische Be- und Entlüftungsmaßnahmen seien nicht vorhanden gewesen. Als Kranfahrer sei der Kläger im gesamten Hallenbereich tätig gewesen. Die Kaltbandlinie habe aus einer Entfettung mit 1,1,1-Trichlorethan, dem Glühofen (bis 1100 °C), der Beize, der Spüle, der Aufrollstation und dem Versand bestanden. Als besonders belastend würden die Einwirkungen durch die Edelstahlbeize beschrieben. Hier seien die Edelstahlbänder im Durchlaufverfahren in einem Flusssäure-/Salpetersäuregemisch gebeizt worden. Infolge der Durchlaufbeize sei es regelmäßig zu erheblichen Belastungen durch Stickoxide gekommen. Störfälle seien ca. zwei bis dreimal pro Woche aufgetreten. Dabei sei die gesamte Produktionshalle mit braunen Stickoxidgasen belastet gewesen, so dass die Arbeit unterbrochen und die Hallen durchlüftet werden mussten. Die Entfettung der fertig gewalzten Bänder sei mit 1,1,1-Trichlorethan durchgeführt worden. Dabei sei das Band, ein Endlosband, mit 15 m pro Minute Bandgeschwindigkeit durch ein ca. 5 m langes, 3 m breites und 1 m tiefes Entfettungsbad geführt worden. Das Entfettungsbad sei bei Raumtemperatur betrieben worden, sei abgedeckt gewesen, habe aber über keine Absaugung verfügt. Das entfettete Band sei unmittelbar nach dem Entfettungsbad in den Glühofen (Durchlaufofen, ca. 20-30 m lang) geleitet worden. Das besagte Entfettungsbad sei Anfang der Achtzigerjahre abgebaut und durch eine wässrig-alkalische Entfettung ersetzt worden. Sofern alle Krankabinen besetzt gewesen sein, sei der Kläger bei den Reparaturschlossern eingesetzt worden. Hier habe er bei Reparatur- und Instandsetzungsarbeiten im gesamten Produktionsbereich geholfen. Derartige Einsätze seien jeweils für 5 Tage pro Monat angefallen. Reinigungs- und Entfettungsarbeiten an Maschinenteilen, Wälzlagern aber auch an Händen, Armen und im Gesicht seien mit "TRI" vorgenommen worden. Ob es sich hierbei um 1,1,1-Trichlorethan oder um Trichlorethylen gehandelt habe, habe der Kläger nicht mehr sagen können. Grundsätzlich sei zur damaligen Zeit sehr sorglos mit dem "TRI" umgangen worden. Ab 1976 habe der Kläger ein Walzgerüst bedient. Er habe sich vorwiegend an dem Steuerstand des Walzgerüstes befunden und den Walzvorgang beobachtet. Bis Anfang der Neunzigerjahre seien die wöchentlichen Reinigungsarbeiten am Walzgerüst mit "TRI" (Lappen und Bürste) vorgenommen worden. Einwirkungen gegenüber CKW-haltigen Dämpfen habe im Umfeld einer Entfettungsanlage bestanden sowie bei Reinigungs- und Entfettungsarbeiten mit 1,1,1-Trichlorethan (Hautkontakt und inhalative Exposition). An das Auftreten pränarkotischer Symptome könne sich der Kläger nicht erinnern. Messwerte und Aufzeichnungen aus den betreffenden Zeiträumen seien nicht mehr vorhanden.
Der Facharzt für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Umweltmedizin Dr. G. führte in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 4. September 2006 aus, bei langdauernder und hoher Exposition könnten auch Trichlorethen und Trichlorethan Leberschäden hervorrufen, wobei der im histologischen Befundbericht beschriebene Leberschaden im vorliegenden Fall unspezifisch sei. Er sei sowohl vereinbart mit einem ernährungsbedingt-toxischen Leberschaden, wie auch mit einem lösemittelbedingt-toxischen Leberschaden, wie auch mit einem feststoffwechselstörungbedingt-toxischen Leberschaden. Insofern könne ein Kausalzusammenhang nur dann hergestellt werden, wenn eine dauerhaft grenzwertüberschreitende Exposition gegenüber den in Rede stehenden halogenierten Kohlenwasserstoffen bestanden habe. Da regelmäßige pränarkotische Zustände offenbar verneint würden, ergebe sich kein sicherer Anhaltspunkt für eine dauerhaft grenzwertüberschreitende Exposition gegenüber den genannten halogenierten Kohlenwasserstoffen. Insgesamt gehe er davon aus, dass der zumindest seit 1976 lediglich einmal wöchentlich stattfindende Kontakt mit TRI nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit zu dem bestehenden Leberschaden geführt habe. Auch die Exposition vor 1976 dürfe bei der gegebenen Größe der Hallen nicht dauerhaft grenzwertüberschreitend gewesen sein, so dass letztlich davon auszugehen sei, dass eine BK 1302 nicht vorliege. Zu dem bei dem Kläger ebenfalls diagnostizierten Plasmozytom führte er aus: Plasmozytome gehörten zu den Non-Hodgkin-Lymphomen. Es werde diskutiert, ob diese durch Benzol ausgelöst werden könnten.
Die Beklagte lehnte daraufhin durch Bescheid vom 10. Januar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Mai 2007 die Feststellung einer Lebererkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 1302 BKV ab. Bei den beruflichen Tätigkeiten des Klägers sei nicht von einer Belastung über den gefährdenden Grenzwerten gegenüber Trichlorethen und Trichlorethan auszugehen.
Der Kläger hat hiergegen am 4. Juni 2007 beim Sozialgericht Gießen Klage erhoben.
Das Sozialgericht hat von Prof. Dr. H., Direktor der Medizinischen Klinik I am Klinikum Kassel ein internistisches Gutachten vom 17. April 2008 eingeholt. Der Sachverständige gelangte zu dem Ergebnis, bei dem Kläger bestehe eine schwergradige Leberfibrose mit zumindest bereits inkomplettem Übergang in eine Leberzirrhose. Im Zusammenhang damit hätten sich eine portale Gastropathie und Ösophagusvarizen I. Grades entwickelt. Die Leberzirrhose sei mehr wahrscheinlich als nicht wahrscheinlich durch die Exposition mit Trichlorethandämpfen entstanden. Erhöhte Konzentrationen hätten vor allem in den siebziger Jahren bestanden. Zusätzlich zu der Dampfexposition seien oft die Hände, das Gesicht sowie die übrige Haut mit Trichlorethan gewaschen worden. Die MdE sei mit 40 v.H. zu bewerten. Im Rahmen der Begutachtung und des zweitägigen stationären Aufenthaltes seien ausführliche Untersuchungen durchgeführt worden. Dabei sei eine Virushepatitis-A, -B und -C sowie eine zu einer Leberzirrhose führende Stoffwechselstörung ausgeschlossen worden. Weiterhin habe sich laborchemisch kein Hinweis auf eine autoimmunologisch bedingte Leberschädigung sowie eine Schädigung durch einen viralen Infekt gezeigt. Es bestehe auch kein Hinweis auf eine toxische Genese durch Alkohol. Bei bekannter Eisenüberladung der Leber sei bereits in der Universitätsklinik Gießen im Jahre 2006 eine genetische homozygote Anlage für eine Hämochromatose ausgeschlossen worden. Das HSE Y 282 Gen sei negativ, die Anlage bezüglich des HSE H 36 D Gens sei heterozygot gewesen. Es sei eher unwahrscheinlich, dass diese Genkonstellation zu einer Hämochromatose mit Leberzirrhose führe. Wahrscheinlicher sei, dass es bei einer vorgeschädigten Leber und genetisch heterozygoter Anlage für eine Hämachromatose sekundär zu einer ausgeprägten Eisenüberladung der Leber kommen könne. Diese verstärke jedoch den toxischen Schaden. Der Kläger sei bei seiner beruflichen Tätigkeit gegenüber Trichlorethan exponiert gewesen. Gemäß der aktuellen Literatur gehöre Trichlorethan als Hallogenkohlenwasserstoff zu den lebertoxisch wirkenden Substanzen, allerdings zu den Substanzen mit einer im Verhältnis eher weniger starken lebertoxischen Wirkung. Es habe jedoch gezeigt werden können, dass auch Trichlorethan zu einer Leberschädigung mit Leberzirrhose führen könne. Insbesondere könnten Leber- und Nierenschäden auch nach langfristiger Exposition gegenüber geringeren Konzentrationen von Halogenkohlenwasserstoffen auftreten. Da eine anderweitige Ursache für die Hepatopathie des Klägers nicht eruiert werden könne, sei es wahrscheinlich, dass die Ursache für die Leberfibrose/-zirrhose des Klägers durch die Exposition mit Trichlorethan im Rahmen der beruflichen Tätigkeit verursacht worden sei. Dazu passe auch der histologische Befund aus dem Leberstanzsbiopsat vom 30. Januar 2008. Für eine Hepatopathie durch die berufliche Exposition mit Trichlorethan spreche auch der zeitliche Verlauf der Krankheit mit Beginn der Leberwerterhöhungen 1972, zwei Jahre nach Aufnahme der Tätigkeit als Kranführer in den Hallen der Firma.
Die Beklagte hat hierzu eine Stellungnahme des Dr. F. vom 16. Juli 2008 vorgelegt. Dieser hat ausgeführt, der Sachverständige gebe keine Erklärung dazu, was er unter ausgeprägten und langandauernden Expositionen verstehe. Es werde unterstellt, dass eine mehrjährige und arbeitstägliche Exposition gegenüber 1,1,1-Trichlorethan oberhalb des jeweiligen Luftgrenzwertes gemeint sei. Dieser MAK-Wert/Arbeitsplatzgrenzwert für 1,1,1-Trichlorethan betrage 200 ml/m³ bzw. 1100 mg/m³. Dieser Wert werde bei einer "worst-case"-Berechnung der inhalativen Belastung des Klägers nicht erreicht. Werde die angegebene Hallengröße berücksichtigt und unterstellt, dass in der Halle kein Luftaustausch stattfand, pro Woche 400 Liter 1,1,1-Trichlorethan nachgefüllt wurden, die vollständig frei verdunstet seien, eine homogene Verteilung der Lösemitteldämpfe vorgelegen habe und eine vollschichtige inhalative Belastung gegenüber den Dämpfen bestanden habe, errechne sich eine inhalative Belastung von lediglich 135,1 ml/m³. Hieraus lasse sich kein ausgeprägter und lang andauernder Kontakt zu Trichlorethan begründen.
Prof. Dr. H. hat in einer Stellungnahme vom 24. September 2008 ausgeführt, bekannt sei, dass dauernder Kontakt auch mit niedrigen Konzentrationen des Trichlorethans einen Leberschaden bewirken könne. Da für die fortgeschrittene Leberzirrhose des Klägers keine andere Ursache laborchemisch und histologisch erfassbar sei, andererseits offenkundig von einer langjährigen Exposition mit Trichlorethan auszugehen sei, spreche die Wahrscheinlichkeit im hohem Maße für toxische Folgeerscheinungen als Ursache der Lebererkrankung. Hohe Konzentrationen, die pränarkotische Zustände auszulösen vermögen, bedürfe es bei langjähriger Exposition nicht. Da andere Ursachen des Leberschadens so gut wie auszuschließen seien, sei trotz fehlendem Nachweis sehr hoher Konzentrationen die Langzeit-Exposition niedrigerer Mengen von Trichlorethan als verantwortlich für die Genese der Leberzirrhose anzusehen.
Das Sozialgericht hat durch Urteil vom 1. April 2010 die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, bei dem Kläger eine schwere Leberfibrose mit zumindest inkomplettem zirrhotischem Umbau, zurzeit kompensiert, mit der Folge portaler Gastropathie und Ösophagusvarizen I. Grades als Berufskrankheit gemäß Ziffer 1302 der Anlage 1 zur BKV anzuerkennen und dem Kläger ab 19. September 2005 Verletztenrente aufgrund einer MdE von 40 v.H. in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte hat hiergegen am 12. Juli 2010 beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt Berufung eingelegt und auf eine Stellungnahme ihres Beratungsarztes Dr. G. vom 29. Juni 2010 verwiesen. Dieser hat ausgeführt, schon aus toxikologischer Sicht sei nicht wahrscheinlich zu machen, dass der Leberschaden des Klägers im Zusammenhang mit der 1,1,1-Trichlorethanexposition stehe. Der Grenzwert für diesen Stoff sei nicht wegen seiner in Rede stehenden Hepatotoxizität, sondern wegen seiner Wirkung auf das zentrale Nervensystem festgelegt worden. Bei inhalativer Belastung bedürfe es überhaupt einer langjährigen Belastung oberhalb der gültigen Grenzwerte, um einen Leberschaden zu indizieren. Bei der geringen Lebertoxizität sei die Ausbildung einer Leberzirrhose zudem höchst unwahrscheinlich. Der Nichtnachweis einer außerberuflichen Ursache für eine Lebererkrankung könne nicht dazu führen, den Kausalzusammenhang einer Berufskrankheit anzunehmen.
Nach einem neuen Sachvortrag des Klägers hat die Beklagte Nachermittlungen in ihrem Mitgliedsunternehmen durchgeführt. Im Bericht des Dr. F. vom 27. April 2012 wurde ausgeführt, ergänzend zu der Arbeitsablaufbeschreibung der Kaltbandlinie vom 4. August 2006 sei festzustellen, dass sich hinter dem Entfettungsbad, direkt vor dem Ofeneinlauf als Bandspeicher 2, später 3 bis zu 18 m tiefe Schlinggruben befunden hätten, die maximal 108 m Band zwischenpuffern konnten. Das Entfettungsbecken sei zwecks besserer Entfettungswirkung über Heizschlangen indirekt beheizt worden. Die Badtemperatur sei von dem ehemaligen Obermeister Herr C. und von Herrn J., der damals für die Beheizung des Entfettungsbeckens verantwortlich gewesen sei, auf 40° bis maximal 50° eingeschätzt worden. Die entfetteten Bänder seien anschließend durch den Bandpuffer geführt worden, bevor sie in den Glühofen geleitet worden seien. Die Angaben des Klägers gegenüber Prof. Dr. H., dass wöchentlich ca. 200-400 l des Entfettungsmediums nachgefüllt werden mussten, sei auf ca. 800 l wöchentlich zu korrigieren. Ab 1976 bis ca. 2009 sei der Kläger an einem Steuerstand eines Walzgerüstes weiterbeschäftigt worden. Dieser Steuerstand habe sich nicht in der gleichen Halle wie die Kaltbandlinie befunden. In unmittelbarer Nähe zu dem Steuerstand habe sich eine Redestillationsanlage befunden, in der verbrauchtes CKW (1,1,1-Trichlorethan oder Trichlorethylen) aufbereitet worden sei. Der Steuerstand sei zunächst ein unterstandähnlicher Arbeitsplatz mit einem Windschutz im Rücken und einem Dach gewesen. Zum Walzgerüst sei der Steuerstand zunächst offen gewesen und sei im Laufe der Zeit mit einer Klapptür ausgestattet worden. Erst ca. 2000 seien vollständig geschlossene, schallisolierte und klimatisierte Steuerstellen eingebaut worden. Der Kläger habe jeweils beim letzten von 5-6 Walzvorgängen eine Sichtkontrolle vornehmen müssen, indem die Bandgeschwindigkeit stark reduziert und ein Teil des Bandes zur besseren Beurteilung mit einem mit Trichlorethen befeuchteten Lappen abgewischt worden sei. Ein Kontrollgang habe ca. 1-2 min gedauert und sei ca. 8 mal pro Schicht ausgeführt worden. Einmal pro Monat sei eine Putzschicht bzw. Reparaturschicht gefahren worden. Der Kläger habe das Walzgerüst intensiv gereinigt. Dazu seien die verschiedenen Maschinenteile mit einem Reinigungsmittel, in der Regel TRI, großflächig abgewaschen worden. Für diese Arbeiten hätten Handschuhe zur Verfügung gestanden. Der direkte Umgang mit der Reinigungsflüssigkeit werde auf ca. 4 Stunden pro Monat eingeschätzt. Trichlorethylen sei Mitte der 1990er Jahre aus dem Betrieb herausgenommen und ersetzt worden. Dr. F. gelangte zu der Beurteilung, Einwirkungen gegenüber verdampftem 1,1,1-Trichlorethan seien für den Kläger in geringer Konzentration (dauerhaft sichere Einhaltung des damals gültigen MAK-Wertes von 200 ml/m³) für die Zeitanteile zu vermuten, in denen er sich über dem Entfettungsbecken befand. Längere Aufenthalte des Kranes über dem Entfettungsbecken seien nicht anzunehmen, da das Entfettungsbad nicht mittels Brückenkran beschickt worden sei. Daraus sei zu folgern, dass Einwirkungen gegenüber 1,1,1-Trichlorethan etwa 5 Jahre lang deutlich unterhalb des MAK-Wertes bestanden hätten. Ab 1976 habe eine Einwirkung gegenüber CKW haltigen Dämpfen bestanden, wenn bei Bandkontrollen ein Prüffeld mit einem mit TRI befeuchten Lappen abgewischt worden sei und zwar für ca. 16 min pro Schicht und ca. 5 Stunden pro Monat. Dabei sei von einer dauerhaft sicheren Einhaltung des damals gültigen MAK-Wertes und des Kurzzeitwertes auszugehen. Für 4 Stunden pro Monat während der großflächigen Reinigungsarbeiten am Walzgerüst (Putzschicht) sei eine inhalative und dermale Belastung (sofern keine geeigneten Handschuhe getragen worden seien) oberhalb des Kurzzeitwertes anzunehmen. Einwirkungen gegenüber Trichlorethylen, deutlich unterhalb des zulässigen Schichtmittelwertes, hätten für den Kläger etwa 20 Jahre lang für ca. 9 Stunden pro Monat bestanden.
Der Kläger hat geltend gemacht, als Kranführer im Arbeitsbereich der Kaltbandlinie sei er bis September 1976 tätig gewesen. Nach Auskunft aller 3 Personen, die an dem Gespräch am 20. April 2012 im Beschäftigungsunternehmen teilgenommen hätten, sei als Betriebstemperatur des Entfettungsbeckens Werte von 50-60°C genannt worden. Die Sichtkontrolle der Bänder auf Fehler sei erfolgt, nachdem das Band gestoppt worden sei. Der Kontrollvorgang sei häufiger als 8 mal pro Schicht durchgeführt worden, weil ein Kontrollvorgang vor und nach einem Walzwechsel vorgenommen worden sei. Habe sich bei einem Kontrollvorgang gezeigt, dass die Walze beschädigt gewesen sei, habe sie gewechselt werden müssen. Danach habe erneut kontrolliert werden müssen, ob die entsprechende Walze sauber und glatt walzte. Die Walzen von III-c-Bändern seien dreimal pro Band und die Walzen von III-d-Bändern seien sechsmal pro Band gewechselt worden. Pro Arbeitsschicht seien 24 bis maximal 36 Walzenwechsel vorgenommen worden, je nachdem wie viele Bänder in III-c oder III-d gewalzt worden seien. Der Walzenwechsel habe höchstens 5 min gedauert, d.h. der Walzenwechsel pro Schicht habe maximal 120-180 min in Anspruch genommen.
Dr. F. hat hierzu ausgeführt, die Bandwechsel hätten keinen maßgeblichen Einfluss auf eine mögliche Exposition gegenüber TRI. Es sei unerheblich wie oft und in welchem Zeitumfang diese Prüfungen ausgeführt worden seien. Aufgrund der geringen Exposition gegenüber einem mit TRI befeuchteten Lappen in Relation zu dem großen Verdünnungseffekt eines Hallenvolumens von über 32.000 m³ ließen sich keine relevanten inhalativen Belastungen wahrscheinlich machen. Es habe jeweils eine kurzzeitige dermale Einwirkung gegenüber TRI bestanden. Zu der in unmittelbarer Nähe zum Arbeitsplatz des Klägers sich befindenden Destillationsanlage für gebrauchte CKW hat Dr. F. ausgeführt: Sinn und Zweck einer derartigen Anlage sei, verschmutzte Lösemittelbestände destillativ zu reinigen. Das destillierte TRI werde unter Kühlung aufgefangen und der Wiederverwertung zugeführt. Eine relevante inhalative Belastung gegenüber dem Destillat sei nicht anzunehmen.
Nach Hinweis des Senates auf das Ergebnis der Nachermittlungen (Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 27. April 2012) erfolgte seitens des Präventionsdienstes der Beklagten eine weitere Abschätzung der inhalativen Belastung des Klägers durch 1,1,1-Trichlorethan. Vorausgesetzt wurde, dass die wöchentliche nachzufüllende Menge von 800 l 1,1,1-Trichlorethan vollständig verdampft, sich homogen in der Hallenluft verteilt, keinerlei Luftaustausch stattfindet und das ideale Gasgesetz angewendet werden kann. Bei dieser Berechnung ergab sich ein theoretischer Schichtmittelwert von 363,52 ml/m³. Dr. F. hat hierzu ausgeführt, für eine orientierende Abschätzung könne hilfsweise die sich maximal einstellende Konzentration eines Gefahrstoffs in einem Raum berechnet werden. Derartige worst-case-Abschätzungen eigneten sich allerdings nur für kleine Räume. Bei kurzzeitigen Arbeiten, wenn man annehme, dass die gesamte Masse im Raum verbleibe und jeglicher Luftaustausch und Stofftransport in der Luft unberücksichtigt bleiben könne. Nur bei Annahme idealisierter Bedingungen ergebe sich hier eine Überschreitung des MAK-Wertes. Unter den realen Bedingungen einer großen Werkhalle seien jedoch Zu-, Quer- und Abluftströmungen durch natürlichen Luftaustausch über Fenster, Tore, Dachreiter etc. sowie thermische Einflüsse zu berücksichtigen. Auch könne nicht von der idealisierten Vorstellung ausgegangen werden, dass die Dämpfe aus dem Entfettungsbecken sich homogen in dem gesamten Hallenvolumen verteilt hätten. Bereits bei Berücksichtigung einer geringen Luftwechselrate von 0,25 pro Stunde, d.h. ein kompletter Austausch der Hallenluft innerhalb von 4 Stunden (idealisierte Annahme), ergebe sich eine Unterschreitung des MAK-Wertes auf 182 ml/m³. In der aufgeführten idealisierten Abschätzung sei auch die Inhomogenität der Schadstoffkonzentration im Raum nicht berücksichtigt worden. Erfahrungsgemäß sei in der Nähe einer Stoffquelle (Entfettungsbecken) mit höheren Konzentrationen als an anderen Stellen des Raumes zu rechnen. Auch die Annahme, dass der gesamte Stoffverlust von 800 l 1,1,1-Trichlorethan pro Woche in die Atemluft verdampft worden sei, sei nicht realistisch. Ein großer Teil des Stoffverlustes beruhe unter anderem auch auf Abschleppungen durch die durchlaufenden Bänder mit Eintrag in den Glühofen. Nach wie vor sei von einer Unterschreitung des damals gültigen Schichtmittelwertes in der Luft am Arbeitsplatz des Klägers auszugehen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 1. April 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er trägt ergänzend vor, die Krankanzel habe sich in 3 m Höhe über dem Entfettungsbad befunden.
Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung vom 16. Juni 2015 den Kläger zu seiner beruflichen Tätigkeit bei der Firma CW. AG in C-Stadt befragt und den Rentner C., der als Obermeister für den Bereich der Kaltbandlinie zuständig war, als präsenten Zeugen vernommen. Zu den Angaben des Klägers und des Zeugen wir auf das Sitzungsprotokoll (Blatt 182 bis 185 der Gerichtsakte) verwiesen.
Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die zum Verfahren beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.