Landessozialgericht Hessen 28.09.2011, L 8 P 38/10

  • Aktenzeichen: L 8 P 38/10
  • Spruchkörper: 8. Senat
  • Instanzenaktenzeichen: S 9 P 10/09
  • Instanzgericht: Sozialgericht Gießen
  • Gericht: Hessisches Landessozialgericht
  • Entscheidungstyp: Urteil
  • Entscheidungsdatum: 28.09.2011

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch der Klägerin auf Leistungen nach der Pflegestufe II ab dem 1. März 2007 streitig und insoweit insbesondere, ob und ggf. in welchem Umfang Wartezeiten ihrer Pflegeperson während physiotherapeutischer Anwendungen pflegestufeerhöhend zu berücksichtigen sind.

Die Klägerin, geboren im Jahr 1952, leidet an den Folgen zweier Lebertransplantationen (1993 und 2001) sowie an den Folgen eines während der letzten Operation erlittenen Schlaganfalls in Form einer inkompletten Hemiparese links.

Sie lebt zusammen mit ihrem Ehemann, der sie pflegt, in einem Fachwerkhaus, das über einen am Hang gelegenen Hof mit Kopfsteinpflaster und über eine Treppe mit 7 Stufen zu erreichen ist. Das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung wird durch ein Gerüst erschwert, welches zwischenzeitlich seit 10 Jahren für Fassadenarbeiten angebracht ist. Der Pkw des Ehemanns, mit dem die Klägerin zu ärztlich verordneten Krankengymnastik und Lymphdrainage gefahren wird, entspricht einem Jeep mit hoher Einstiegskante. Die Klägerin wird - nach ihrem Vortrag - regelmäßig zweimal wöchentlich zu ärztlich verordneten Krankengymnastik und Lymphdrainage gefahren. Diese werden im 13,74 km entfernten BS. (BU-Straße in BU-BS.) an zwei Terminen in der Woche durchgeführt (1x Krankengymnastik sowie 1x Krankengymnastik und Lymphdrainage). Eine wohnortnahe physiotherapeutischen Praxis befindet sich in 5,26 km Entfernung von der Wohnung der Klägerin in A-Stadt.

Die Klägerin ist versorgt u. a. mit einem Rollstuhl, einem fahrbaren Toilettenstuhl, einer Aufrichthilfe am Bett und Kompressionsstrümpfen der Klasse II (links getragen).

Ab 2000 erhielt die Klägerin von ihrer damaligen Pflegeversicherung (AOK – die Gesundheitskasse in Hessen – Pflegeversicherung) Pflegegeld nach der Pflegestufe II. Das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Hessen (MDK) vom 22. Mai 2006 zur Überprüfung der Pflegestufe kam zu dem Ergebnis, ab März 2006 seien im Fall der Klägerin nur noch die Voraussetzungen für die Pflegestufe I erfüllt, da für die Grundpflege nur noch 82 Minuten täglich im Wochendurchschnitt zu berücksichtigen seien. Nach einer erneuten Stellungnahme des MDK wurde der Klägerin weiterhin Pflegegeld nach der Pflegestufe II bis zum 28. Februar 2007 gewährt.

Ab dem 1. März 2007 ist die Klägerin Mitglied bei der Beklagten. Mit Bescheid vom 10. April 2007 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab 1. März 2007 (Beginn der Mitgliedschaft) Pflegegeld nach der Pflegestufe I, überwies der Klägerin jedoch für den Zeitraum vom 1. März 2007 bis zum 30. April 2007 die Geldleistung in Höhe der Pflegestufe II. Des Weiteren kündigte die Beklagte die Einholung der vom MDK empfohlenen Wiederholungsbegutachtung an.

Die Klägerin erhob Widerspruch gegen die Bewilligung der Pflegestufe I und führte dazu aus, sie habe aufgrund ihrer bisherigen Einstufung Anspruch auf Leistungen nach der Pflegestufe II.

Auf Veranlassung der Beklagten führte der MDK eine Begutachtung der Klägerin in ihrem häuslichen Umfeld am 30. April 2007 durch und kam in seinem Gutachten vom 8. Mai 2007 (Frau Dr. GH.) zu dem Ergebnis, entsprechend dem Vorgutachten vom 22. Mai 2006 seien seit März 2006 die Voraussetzungen der Pflegestufe I erfüllt. Der Zeitaufwand für die Grundpflege erfordere 90 Minuten täglich im Wochendurchschnitt und für die hauswirtschaftlichen Verrichtungen 60 Minuten täglich im Wochendurchschnitt. Zweimal wöchentlich werde Krankengymnastik, einmal wöchentlich kombiniert mit Lymphdrainage in BS. durchgeführt. Bei der Versicherten bestehe unverändert eine inkomplette Hemiparese links. Das Krankheitsbild und der zeitliche Pflegebedarf der Klägerin seien unverändert. Wartezeiten während außerhäuslichen Therapien seien nicht anzuerkennen, da keine zeitliche oder örtliche Bindung der Pflegeperson erkennbar sei. Ergänzend führte der MDK mit aktenmäßiger Stellungnahme vom 18. Juni 2008 (Dr. NL.) aus, da während der Therapien die Klägerin keine Pflege oder Betreuung bedürfe und eine zeitliche oder örtliche Bindung der Pflegekraft nicht erkennbar sei, könnten Wartezeiten nicht dem Pflegebedarf zugerechnet werden.

Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 2009 unter Bezug auf das Gutachten des MDK vom 8. Mai 2007 und die ergänzende Stellungnahme vom 8. Juni 2008 als unbegründet zurück. Der Hilfebedarf der Klägerin bestehe im Bereich der Grundpflege nicht mehr als 120 Minuten täglich im Wochendurchschnitt. Des Weiteren vertrat die Beklagte die Auffassung, dass nach dem Kassenwechsel keine Bindung an die bisherige Einstufung der Vorkasse bestehe.

Dagegen hat die Klägerin am 4. März 2009 Klage vor dem Sozialgericht Gießen erhoben. Zur Begründung hat die Klägerin die Auffassung vertreten, angesichts einer Therapiedauer von 45 Minuten seien die Wartezeiten der Pflegeperson zu berücksichtigen. Aufgrund ihrer linksseitigen Lähmung mit Gehbehinderung und Gleichgewichtsstörungen seien die Fahrten zu den außerhäusigen Therapien nur in Begleitung möglich. Im Hinblick auf die Wartezeiten sei zu berücksichtigen, dass die Hin- und Rückfahrt der Pflegeperson im Sinne einer "Leerfahrt" mehr Zeit in Anspruch nehme als das Warten der Pflegeperson vor Ort. Auch könne der Pflegeperson nicht entgegengehalten werden, sie sei während der Wartezeiten nicht gebunden und könne anderes erledigen.

Dem hat die Beklagte im Wesentlichen entgegengehalten, die außerhäusigen Therapien der Klägerin könnten wohnortnah in einer Praxis in A-Stadt in der X-Straße durchgeführt werden. Insoweit könne für die Hin- und Rückfahrt zweimal wöchentlich und das Aufsuchen der Behandlungsräume ein Hilfebedarf im Umfang von 8,5 Minuten täglich im Wochendurchschnitt berücksichtigt werden. Medizinische Gründe für eine Behandlung in BS. seien nicht erkennbar.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten zum Pflegebedarf der Klägerin durch den Pflegesachverständigen N. NB. vom 17. Oktober 2009 eingeholt. Dieser kam in seinem Gutachten zum Ergebnis, die Klägerin habe einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege in Höhe von 131 Minuten täglich im Wochendurchschnitt (bei der Körperpflege/Blasen- und Darmentleerung von 32,5 Minuten, bei dem Be- und Entkleiden von 34 Minuten, bei der Mobilität von 56,5 Minuten und bei der Ernährung 8 Minuten) und im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung in Höhe von 60 Minuten täglich im Wochendurchschnitt. Im Bereich der Grundpflege hat der Pflegesachverständige unter der Rubrik Mobilität für Wege und Wartezeiten 28,5 Minuten berücksichtigt.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 19. Mai 2010 die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab März 2007 Leistungen nach der Pflegestufe II zu gewähren. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, nach dem Gutachten des Pflegesachverständigen seien die Voraussetzungen der Pflegestufe II im Falle der Klägerin seit dem 1. März 2007 erfüllt. Dieser habe einen Hilfebedarf der Klägerin bei der Körperpflege, der Blasen- und Darmentleerung, des An- und Ausziehens, der Hilfe beim Aufstehen und Zubettgehen, beim Treppensteigen und bei den verrichtungsbezogenen Wegstrecken von 102,5 Minuten täglich im Wochendurchschnitt festgestellt. Zusätzlich seien vorliegend ein Hilfebedarf für Begleitung der Klägerin zu Krankengymnastik und Lymphdrainage, sowie die Wartezeiten der Pflegeperson zu berücksichtigen. Vorliegend sei der Pflegebedarf für die Grundpflege der Pflegestufe II (mehr als 120 Minuten pro Tag im Wochendurchschnitt) bei der Berücksichtigung der Wege- und Wartezeit selbst dann erfüllt, wenn nur die Fahrzeit zur nächstgelegenen Praxis in A-Stadt berücksichtigt werde. Die Fahrstrecke von der Wohnung zur Praxis in A-Stadt könne entgegen der Auffassung der Beklagten nicht innerhalb von 7 Minuten zurückgelegt werden, denn es handele sich hierbei um eine Landstraße, die häufig von LKWs und landwirtschaftlichen Fahrzeugen befahren werde. Auch könne nicht davon ausgegangen werden, dass in der Praxis in A Stadt wie in BS. Termine zusammengelegt werden könnten, so dass nur zwei anstatt drei Fahrten erforderlich seien. Ebenso sei die Wartezeit der Pflegekraft während der Therapien zu berücksichtigen. Nach den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem 11. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungsrichtlinien – BRi) seien auch die zwangsläufig anfallenden Warte- und Begleitzeiten anzurechnen, wenn die Begleitperson zeitlich und örtlich gebunden sei. Es sei von einer zeitlichen und örtlichen Gebundenheit der Pflegeperson auszugehen (Hinweis auf: Bundessozialgericht, Az.: B 3 P 17/97 R). Maßgeblich sei somit die Zeit, die die Pflegeperson ausschließlich für die Abwicklung einer Hilfeleistung benötige und während der sie keine andere Tätigkeit ausführen könne. Somit zählten zwangsläufig anfallende Wartezeiten beim Arztbesuch des zu Pflegenden bzw. anlässlich ärztlich verordneter Therapien zum notwendigen Hilfebedarf. Vorliegend sei die Wartezeit der Pflegeperson ihrem Hilfebedarf hinzuzurechnen, da ihre Begleitung notwendig und eine andere Tätigkeit ihres Ehemannes (z.B. Einkäufe) nicht möglich sei. Gerade im ländlichen Bereich ergeben sich nicht immer Einkaufsmöglichkeiten und seien zudem mehrmals wöchentlich nicht erforderlich. Auch könne der Pflegeperson nicht zugemutet werden, während der Therapie nach Hause zu fahren, da er dort nur einige Minuten verbringen könne. Auch ein Verweis des Ehemannes der Klägerin auf das Lesen von Büchern und Zeitschriften sei nicht möglich, da nach dem Vortrag der Klägerin ihr Ehemann weder Bücher noch Zeitungen lese.

Gegen das ihr am 22. Juni 2010 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 15. Juli 2010 Berufung eingelegt.

Die Beklagte vertritt die Auffassung, die Fahrtstrecke von der Wohnung der Klägerin bis zur physiotherapeutischen Praxis in A-Stadt mit 5,26 km (laut Routenplaner) könne mit der Fahrtstrecke nach BS. mit 13,74 km (laut Routenplaner) nicht verglichen werden. Die laut Routenplaner für die Strecke nach A-Stadt benötigte Zeit von 7 Minuten könne wegen erhöhtem Verkehrsaufkommen auf der Landstraße lediglich um einige Minuten verlängert werden. Dies habe jedoch nicht zur Folge, dass die Voraussetzungen der Einstufung der Klägerin in die Pflegestufe II vorlägen. Auch könne aufgrund einer telefonischen Auskunft der Praxis in A-Stadt davon ausgegangen werden, dass eine Zusammenlegung der Krankengymnastik und Lymphdrainage auf einen Termin möglich sei. Ebenso sei es nicht Aufgabe der Beklagten, der Pflegeperson der Klägerin Möglichkeiten der eigenwirtschaftlichen Nutzung der Wartezeit aufzuzeigen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und anderer Sozialgerichte werde das Lesen lediglich beispielhaft als Tätigkeitsalternative der Pflegeperson während Wartezeiten aufgeführt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 19. Mai 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, das Sozialgericht habe mit dem angefochtenen Urteil eine zutreffende Entscheidung getroffen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Gerichtsakten und auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Auf die Berufung der Beklagten war das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 19. Mai 2010 aufzuheben und die Klage der Klägerin gegen den Bescheid der Beklagten vom 10. April 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 2009 abzuweisen. Denn die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht rechtswidrig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Vielmehr hat die Beklagte mit Bescheid vom 10. April 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 2009 rechtmäßig festgestellt, dass die Klägerin seit dem 1. März 2007 nur einen Anspruch auf Leistungen nach der Pflegestufe I besitzt.

Die Klage der Klägerin konnte keinen Erfolg haben, da die gesetzlichen Voraussetzungen für Leistungen nach der Pflegestufe II nicht mehr erfüllt sind. Ihr Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege erreicht mit 109,5 Minuten nicht die gesetzliche Vorgabe von mehr als 120 Minuten täglich im Wochendurchschnitt.

Unter Zugrundelegung des Gutachtens des Pflegesachverständigen NB. 17. Oktober 2009 und unter Berücksichtigung der pflegebedingt notwendigen Begleitung der Klägerin zur nächstmöglichen physiotherapeutischen Praxis besteht ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege in Höhe von 109,5 Minuten täglich im Wochendurchschnitt.

Pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes sind nach § 14 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen. Nach § 14 Abs. 4 SGB XI sind dabei gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Sinne des Abs. 1 der Vorschrift im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung (Nr. 1), im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung (Nr. 2) sowie im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zubettgehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung (Nr. 3). Neben diesen drei Bereichen der sogenannten Grundpflege gehören zu den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen (§ 14 Abs. 4 SGB XI). Die Hilfe zu diesen Verrichtungen besteht in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen (§ 14 Abs. 3 SGB XI). Für die Gewährung von Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz sind pflegebedürftige Personen im Sinne des § 14 SGB XI einer von drei Pflegestufen zuzuordnen. Dabei unterscheidet § 15 SGB XI Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige), die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI) sowie Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige), die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XI).

Durch das Erste Gesetz zur Änderung des Elften Buches des Sozialgesetzbuches und anderer Gesetze (1. SGB XI-Änderungsgesetz) vom 14. Juni 1996 (BGBl. I S. 830) - mit Wirkung ab dem 25. Juni 1996 - sind nunmehr auch Zeitparameter für die Zuordnung zu den unterschiedlichen Stufen der Pflegebedürftigkeit aufgestellt worden. Nach § 15 Abs. 3 SGB XI muss der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesschnitt (gemeint: täglich im Wochenschnitt) in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen (§ 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI), in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen mit einem Anteil der Grundpflege von mindestens zwei Stunden (§ 15 Abs. 3 Nr. 2 SGB XI). Dabei sind die Zeitvorgaben in § 15 Abs. 3 SGB XI den Pflegebedürftigkeits-Richtlinien vom 7. November 1994 (siehe dort Ziffer 4.1) entnommen worden.

Nach dem Gutachten des Pflegesachverständigen NB. vom 17. Oktober 2009 ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin aufgrund der die Pflege begründenden Diagnosen (Zustand nach Apoplex mit inkompletter Hemiparese links, Leistungsminderung nach zweimaliger Lebertransplantation) folgende Hilfe bzw. Unterstützung benötigt: Beim Aufstehen aus der liegenden Position; Begleitung bzw. Unterstützung bei verrichtungsbezogenen Wegstrecken, insbesondere Treppensteigen; es besteht eine Gleichgewichtsstörung und die linke Hand kann pflegerelevant nicht eingesetzt werden; die Kraftausübung links ist minimal und der linke Arm kann nur eingeschränkt angehoben werden; Hilfe beim An- und Entkleiden sowie bei dem Richten der Kleidung nach Toilettengängen; Vorbereitung der Zahnpflege (das Zähneputzen ist selbständig möglich); beim Duschen, wobei die Pflegeperson während des Duschens komplett zeitlich gebunden ist; notwendig ist die Durchführung einer aktivierenden Pflege; Anziehen des links getragenen Kompressionsstrumpfs ist von der Pflegeperson zu übernehmen; mundgerechte Vorbereitung der Mahlzeiten (Frühstück, Mittagessen, Zwischenmahlzeit und Abendessen); es ist kein freier Gang/Stand möglich, es besteht eine Schwäche des linken Beines und Sturzgefahr, da das linke Bein nicht genügend angehoben werden kann und hängen bleibt; Hilfe 2x nachts zum Erreichen des Toilettenstuhls, da das Schlafzimmer im Haus der Klägerin nur über eine Wendeltreppe (11 Stufen) ohne Handlauf zu erreichen ist und das Bad mit WC sich im Erdgeschoss befindet; aus diesem Grund muss die Pflegeperson auch die Entleerung des Toilettenstuhls am nächsten Morgen übernehmen.

Der Senat geht anhand des Gutachtens des Pflegesachverständigen NB. vom 17. Oktober 2009 ab dem 1. März 2007 von folgendem Hilfebedarf der Klägerin in ihrem häuslichen Umfeld im Bereich der Grundpflege im Umfang von 109,5 Minuten täglich im Wochendurchschnitt aus. Dies setzt sich wie folgt vom 17. Oktober 2009 zusammen:

Bereich Grundpflege/Verrichtungsbezogene Hilfe/Zeitaufwand des Hilfebedarfs täglich im Wochendurchschnitt in Minuten/Zwischenergebnis

Körperpflege

  • Entleeren des Toilettenstuhls täglich 1 x morgens 2,5
  • Zahnpflege, Vor- und Nachbereitung, täglich morgens und abends 2
  • Hände waschen täglich 6 x nach dem Toilettengang 3
  • Duschen mit Haare waschen einschließlich Transfer in die Dusche wöchentlich 5 x 13
  • Ganzkörperwäsche wöchentlich 2 x 5 Teilkörperwäsche 7 32,5

Ernährung

  • Mundgerechte Zubereitung von Frühstück, Mittagessen, Zwischenmahlzeit und Abendessen täglich 8 8

Mobilität

  • Hilfe beim Aufrichten im Bett täglich morgens 0,5
  • Hilfe beim Verlassen des Schlafzimmers (Treppe hinab) täglich morgens 2,5
  • Transfer ins Bad täglich morgens 1
  • Schlafanzug ausziehen täglich morgens 2
  • Tageskleidung vorbereiten täglich morgens 2
  • Hilfe beim Anziehen einschließlich Übernahme des Anziehens des Kompressionsstrumpfs links täglich morgens 9
  • Transfer zur Toilette täglich 4 x bis Mittag 8
  • anschließendes Hände waschen täglich 4 x 2
  • Hilfe beim Treppensteigen zum Erreichen und Verlassen des Schlafzimmers täglich (Mittagsschlaf) 5
  • Hilfe beim Hinlegen und Aufrichten im Bett (Mittagsschlaf) 1
  • Helfen beim Umkleiden täglich vor und nach dem Mittagsschlaf 5
  • Transfer zur Toilette täglich 2 x am Nachmittag 4
  • anschließendes Hände waschen täglich 2 x 1
  • Richten der Kleidung täglich 9 x 9 Hilfe beim Treppensteigen zum Erreichen des Schlafzimmers täglich abends 2,5
  • Hilfe beim Entkleiden täglich Abends einschließlich Übernahme des Ausziehens des Kompressionsstrumpfs links täglich 5 59,5

Der Senat folgt insoweit dem Gutachten des Pflegesachverständigen NB. vom 17. Oktober 2009. Denn der Wortlaut des Gutachtens weist aus, dass dieser die aktenkundigen medizinischen Befunde sorgfältig ausgewertet und umfangreiche Erhebungen, insbesondere durch Befragung der Klägerin und Demonstration der anfallenden Pflegeverrichtungen, durchgeführt hat. Die von ihm ermittelten Zeitwerte für die einzelnen Pflegehandlungen berücksichtigen auch die Orientierungswerte der sogenannten Begutachtungsrichtlinien (Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches – BRi), die dazu dienen sollen, eine im Hinblick auf Art. 3 GG verfassungsrechtlich gebotene einheitliche Beurteilungspraxis zu gewährleisten.

Nach Überzeugung des Senats ist darüber hinaus ein weiterer Hilfebedarf (im Bereich der Grundpflege Mobilität) im Umfang von insgesamt 9,5 Min täglich im Wochendurchschnitt für die notwendige Begleitung der Klägerin zu ihrer ärztlich verordneten Krankengymnastik und Lymphdrainage zu berücksichtigen.

Dabei geht der Senat von der Möglichkeit einer wohnortnahen Behandlung der Klägerin in A-Stadt aus, da keine medizinischen Gründe vorgetragen und aus der Akte auch nicht ersichtlich sind, die eine Behandlung in BS. rechtfertigen. Zwar hat die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 28. September 2011 insoweit ausgeführt hat, da sie in der dortigen Klinik nach dem Apoplex behandelt worden sei, wolle sie dort auch die ärztlich verordneten Maßnahmen durchführen. Dieser Wunsch der Klägerin ist dem Senat zwar menschlich verständlich, stellt jedoch keine medizinische Begründung dar, die die Annahme einer ausschließlichen Behandlungsmöglichkeit in BS. rechtfertigt. Somit konnte allein eine therapeutische Behandlung der Klägerin in der wohnortnahen Praxis berücksichtigt werden. Auch geht der Senat davon aus, dass die Klägerin in A-Stadt ebenso wie in BS. an zwei Terminen behandelt werden kann. Dem folgend geht der Senat von einer zu berücksichtigenden Fahrzeit zwischen der Wohnung und der physiotherapeutischen Praxis in A-Stadt von 7 Minuten pro Fahrtstrecke 5,26 km aus und gelangt damit in Umrechnung zu einem weiteren Hilfebedarf von 4 Minuten täglich im Wochendurchschnitt bei Zugrundelegung von 4 Fahrten bei 2 Terminen (4 x 7 Minuten div. durch 7). Da die Verkehrssituation auch im ländlichen Bereich sehr unterschiedlich sein kann und um gleichmäßige Berücksichtigung zu gewährleisten, sind die durchschnittlichen Fahrtzeiten zu berücksichtigen, wie diese von einem gängigen Routenplaner berechnet werden.

Weiter ist der Senat zu der Überzeugung gekommen, dass sich für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung, Ein- und Ausladen des Rollstuhls sowie für das Ein- und Aussteigen der Klägerin in und aus dem Auto des Ehemannes und das Aufsuchen der physiotherapeutischen Praxis entsprechend dem Gutachten des Pflegesachverständigen ein weiterer Hilfebedarf von 2,5 Minuten täglich im Wochendurchschnitt (9 Minuten Hilfe pro Behandlungstermin – entsprechend dem Gutachten des Sachverständigen NB. – 2 Termine pro Woche div. durch 7) ergibt.

Darüber hinaus ist nach Überzeugung des Senats die notwendige Hilfe der Klägerin beim Transfer innerhalb der Praxis und für das An- und Ausziehen der Bekleidung im Rahmen der ärztlich verordneten Behandlung ebenfalls zu berücksichtigen. Abgeleitet von dem Gutachten des Pflegesachverständigen geht der Senat insoweit von einem Hilfebedarf der Klägerin im Umfang von 3 Minuten täglich im Wochendurchschnitt aus (5 Minuten x 4 div. durch 7).

Nicht berücksichtigt werden konnte – entgegen der Überzeugung des Sozialgerichts – die Wartezeit des Ehemannes der Klägerin während der ärztlich verordneten Therapien als Hilfe im Bereich der Mobilität. Als Maßnahme der Grundpflege kann die Mobilitäts-Hilfe außerhalb der eigenen Wohnung nur dann berücksichtigt werden, wenn sie erforderlich ist, um das Weiterleben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen, also um Krankenhausaufenthalte und die stationäre Pflege in einem Pflegeheim zu vermeiden und die Hilfe durch Begleitung zum Arzt durchschnittlich wenigstens einmal wöchentlich anfällt. Gleiches gilt für die Begleitung zum Krankengymnasten, wenn die Maßnahme ärztlich verordnet ist (Bundessozialgericht, Urteil vom 26. November 1998, Az.: B 3 P 20/97 R, SozR 3-3300 § 14 Nr. 9; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Urteil vom 19. November 2009, Az.: L 27 P 75/08, beides veröff. in juris). Dies ist vorliegend unstreitig. Streitig ist lediglich die Berücksichtigung der Wartezeit der Pflegeperson. Vorliegend suchte die Klägerin nach ihren Angaben zweimal wöchentlich eine physiotherapeutische Praxis auf. Der sie im eigenen Auto fahrende Ehemann wartete während der Behandlungszeiten auf sie. Aus medizinischer Sicht hat der Sachverständige NB. die Wartezeit nicht für erforderlich angesehen. Auch sind nach den vorliegenden Unterlagen keine Anhaltspunkte erkennbar, die für eine Notwendigkeit der Anwesenheit des Ehemannes als Pflegeperson sprechen.

Nach Überzeugung des Senats kann nach allgemeiner Lebenserfahrung davon ausgegangen werden, dass eine Pflegeperson das Zeitfenster der Wartezeit während einer physiotherapeutischen Behandlung sinnvoll für sich nutzen kann. Etwas anderes kann dann angenommen werden, wenn Umstände des Einzelfalles die Annahme rechtfertigen, die Pflegeperson müsse sich auch während der Wartezeit abrufbereit zur Verfügung halten. Dies kann für die Wartezeit eines pflegenden Elternteils während der physiotherapeutischen Behandlung des pflegebedürftigen Kindes gelten, wenn wegen des Alters oder des Gesundheitszustandes des pflegebedürftigen Kindes zu befürchten ist, dass der Elternteil beruhigend auf das Kind einwirken muss. Dabei verkennt der Senat nicht, dass auch im Falle eines erwachsenen Pflegebedürftigen eine vergleichbare Situation bestehen kann. Im Fall der Klägerin konnte der Senat nach dem von ihrer Person in der mündlichen Verhandlung am 28. September 2011 gewonnenen Eindruck eine damit vergleichbare Falllage nicht erkennen.

Der klägerische Vortrag, die Pflegeperson – hier der Ehemann – lese nicht und gehe auch nicht gerne in der Umgebung der Physiotherapiepraxis spazieren, kann aus rechtlichen Gründen keine Berücksichtigung finden. Der für die Zuordnung zu einer Pflegestufe maßgebende Pflegebedarf kann nur nach seinem objektiven Ausmaß und damit unabhängig von den Lebensumständen der konkreten Pflegeperson beurteilt werden. Eine Berücksichtigung von Konstitution und Lebensumständen der Pflegeperson würde bei einem ansonsten gleichen Pflegebedarf je nach Wahl der Pflegeperson zu unterschiedlichen Leistungen führen. Des Weiteren müsste bei jedem Wechsel der Pflegeperson eine Neueinstufung vorgenommen werden. Auch spricht die Formulierung in § 15 Abs. 3 SGB XI gegen eine so stark individualisierende Betrachtungsweise. Diese Norm stellt auf den Zeitaufwand ab, den "ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson" für die erforderlichen Pflegeleistungen benötigt, nicht hingegen auf die Zeit, welche die für den Versicherten tätige konkreten Person für die Pflegeverrichtungen braucht (vgl. BSG, Urteil vom 21.02.2002, B 3 P 12/01 R, juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des §§ 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

 

Die Veröffentlichung des Urteils erfolgt nach ausdrücklicher Genehmigung durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main. Eine Nutzung dieses Urteils von Sozialversicherung-kompetent.de zur gewerblichen Nutzung ist untersagt.

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