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Landessozialgericht Hessen 28.09.2011, L 8 P 38/10

  • Aktenzeichen: L 8 P 38/10
  • Spruchkoerper: 8. Senat
  • Instanzenaktenzeichen: S 9 P 10/09
  • Instanzgericht: Sozialgericht Gießen
  • Gericht: Hessisches Landessozialgericht
  • Entscheidungstyp: Urteil
  • Entscheidungsdatum: 28.09.2011

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch der Klägerin auf Leistungen nach der Pflegestufe II ab dem 1. März 2007 streitig und insoweit insbesondere, ob und ggf. in welchem Umfang Wartezeiten ihrer Pflegeperson während physiotherapeutischer Anwendungen pflegestufeerhöhend zu berücksichtigen sind.

Die Klägerin, geboren im Jahr 1952, leidet an den Folgen zweier Lebertransplantationen (1993 und 2001) sowie an den Folgen eines während der letzten Operation erlittenen Schlaganfalls in Form einer inkompletten Hemiparese links.

Sie lebt zusammen mit ihrem Ehemann, der sie pflegt, in einem Fachwerkhaus, das über einen am Hang gelegenen Hof mit Kopfsteinpflaster und über eine Treppe mit 7 Stufen zu erreichen ist. Das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung wird durch ein Gerüst erschwert, welches zwischenzeitlich seit 10 Jahren für Fassadenarbeiten angebracht ist. Der Pkw des Ehemanns, mit dem die Klägerin zu ärztlich verordneten Krankengymnastik und Lymphdrainage gefahren wird, entspricht einem Jeep mit hoher Einstiegskante. Die Klägerin wird - nach ihrem Vortrag - regelmäßig zweimal wöchentlich zu ärztlich verordneten Krankengymnastik und Lymphdrainage gefahren. Diese werden im 13,74 km entfernten BS. (BU-Straße in BU-BS.) an zwei Terminen in der Woche durchgeführt (1x Krankengymnastik sowie 1x Krankengymnastik und Lymphdrainage). Eine wohnortnahe physiotherapeutischen Praxis befindet sich in 5,26 km Entfernung von der Wohnung der Klägerin in A-Stadt.

Die Klägerin ist versorgt u. a. mit einem Rollstuhl, einem fahrbaren Toilettenstuhl, einer Aufrichthilfe am Bett und Kompressionsstrümpfen der Klasse II (links getragen).

Ab 2000 erhielt die Klägerin von ihrer damaligen Pflegeversicherung (AOK – die Gesundheitskasse in Hessen – Pflegeversicherung) Pflegegeld nach der Pflegestufe II. Das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Hessen (MDK) vom 22. Mai 2006 zur Überprüfung der Pflegestufe kam zu dem Ergebnis, ab März 2006 seien im Fall der Klägerin nur noch die Voraussetzungen für die Pflegestufe I erfüllt, da für die Grundpflege nur noch 82 Minuten täglich im Wochendurchschnitt zu berücksichtigen seien. Nach einer erneuten Stellungnahme des MDK wurde der Klägerin weiterhin Pflegegeld nach der Pflegestufe II bis zum 28. Februar 2007 gewährt.

Ab dem 1. März 2007 ist die Klägerin Mitglied bei der Beklagten. Mit Bescheid vom 10. April 2007 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab 1. März 2007 (Beginn der Mitgliedschaft) Pflegegeld nach der Pflegestufe I, überwies der Klägerin jedoch für den Zeitraum vom 1. März 2007 bis zum 30. April 2007 die Geldleistung in Höhe der Pflegestufe II. Des Weiteren kündigte die Beklagte die Einholung der vom MDK empfohlenen Wiederholungsbegutachtung an.

Die Klägerin erhob Widerspruch gegen die Bewilligung der Pflegestufe I und führte dazu aus, sie habe aufgrund ihrer bisherigen Einstufung Anspruch auf Leistungen nach der Pflegestufe II.

Auf Veranlassung der Beklagten führte der MDK eine Begutachtung der Klägerin in ihrem häuslichen Umfeld am 30. April 2007 durch und kam in seinem Gutachten vom 8. Mai 2007 (Frau Dr. GH.) zu dem Ergebnis, entsprechend dem Vorgutachten vom 22. Mai 2006 seien seit März 2006 die Voraussetzungen der Pflegestufe I erfüllt. Der Zeitaufwand für die Grundpflege erfordere 90 Minuten täglich im Wochendurchschnitt und für die hauswirtschaftlichen Verrichtungen 60 Minuten täglich im Wochendurchschnitt. Zweimal wöchentlich werde Krankengymnastik, einmal wöchentlich kombiniert mit Lymphdrainage in BS. durchgeführt. Bei der Versicherten bestehe unverändert eine inkomplette Hemiparese links. Das Krankheitsbild und der zeitliche Pflegebedarf der Klägerin seien unverändert. Wartezeiten während außerhäuslichen Therapien seien nicht anzuerkennen, da keine zeitliche oder örtliche Bindung der Pflegeperson erkennbar sei. Ergänzend führte der MDK mit aktenmäßiger Stellungnahme vom 18. Juni 2008 (Dr. NL.) aus, da während der Therapien die Klägerin keine Pflege oder Betreuung bedürfe und eine zeitliche oder örtliche Bindung der Pflegekraft nicht erkennbar sei, könnten Wartezeiten nicht dem Pflegebedarf zugerechnet werden.

Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 2009 unter Bezug auf das Gutachten des MDK vom 8. Mai 2007 und die ergänzende Stellungnahme vom 8. Juni 2008 als unbegründet zurück. Der Hilfebedarf der Klägerin bestehe im Bereich der Grundpflege nicht mehr als 120 Minuten täglich im Wochendurchschnitt. Des Weiteren vertrat die Beklagte die Auffassung, dass nach dem Kassenwechsel keine Bindung an die bisherige Einstufung der Vorkasse bestehe.

Dagegen hat die Klägerin am 4. März 2009 Klage vor dem Sozialgericht Gießen erhoben. Zur Begründung hat die Klägerin die Auffassung vertreten, angesichts einer Therapiedauer von 45 Minuten seien die Wartezeiten der Pflegeperson zu berücksichtigen. Aufgrund ihrer linksseitigen Lähmung mit Gehbehinderung und Gleichgewichtsstörungen seien die Fahrten zu den außerhäusigen Therapien nur in Begleitung möglich. Im Hinblick auf die Wartezeiten sei zu berücksichtigen, dass die Hin- und Rückfahrt der Pflegeperson im Sinne einer "Leerfahrt" mehr Zeit in Anspruch nehme als das Warten der Pflegeperson vor Ort. Auch könne der Pflegeperson nicht entgegengehalten werden, sie sei während der Wartezeiten nicht gebunden und könne anderes erledigen.

Dem hat die Beklagte im Wesentlichen entgegengehalten, die außerhäusigen Therapien der Klägerin könnten wohnortnah in einer Praxis in A-Stadt in der X-Straße durchgeführt werden. Insoweit könne für die Hin- und Rückfahrt zweimal wöchentlich und das Aufsuchen der Behandlungsräume ein Hilfebedarf im Umfang von 8,5 Minuten täglich im Wochendurchschnitt berücksichtigt werden. Medizinische Gründe für eine Behandlung in BS. seien nicht erkennbar.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten zum Pflegebedarf der Klägerin durch den Pflegesachverständigen N. NB. vom 17. Oktober 2009 eingeholt. Dieser kam in seinem Gutachten zum Ergebnis, die Klägerin habe einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege in Höhe von 131 Minuten täglich im Wochendurchschnitt (bei der Körperpflege/Blasen- und Darmentleerung von 32,5 Minuten, bei dem Be- und Entkleiden von 34 Minuten, bei der Mobilität von 56,5 Minuten und bei der Ernährung 8 Minuten) und im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung in Höhe von 60 Minuten täglich im Wochendurchschnitt. Im Bereich der Grundpflege hat der Pflegesachverständige unter der Rubrik Mobilität für Wege und Wartezeiten 28,5 Minuten berücksichtigt.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 19. Mai 2010 die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab März 2007 Leistungen nach der Pflegestufe II zu gewähren. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, nach dem Gutachten des Pflegesachverständigen seien die Voraussetzungen der Pflegestufe II im Falle der Klägerin seit dem 1. März 2007 erfüllt. Dieser habe einen Hilfebedarf der Klägerin bei der Körperpflege, der Blasen- und Darmentleerung, des An- und Ausziehens, der Hilfe beim Aufstehen und Zubettgehen, beim Treppensteigen und bei den verrichtungsbezogenen Wegstrecken von 102,5 Minuten täglich im Wochendurchschnitt festgestellt. Zusätzlich seien vorliegend ein Hilfebedarf für Begleitung der Klägerin zu Krankengymnastik und Lymphdrainage, sowie die Wartezeiten der Pflegeperson zu berücksichtigen. Vorliegend sei der Pflegebedarf für die Grundpflege der Pflegestufe II (mehr als 120 Minuten pro Tag im Wochendurchschnitt) bei der Berücksichtigung der Wege- und Wartezeit selbst dann erfüllt, wenn nur die Fahrzeit zur nächstgelegenen Praxis in A-Stadt berücksichtigt werde. Die Fahrstrecke von der Wohnung zur Praxis in A-Stadt könne entgegen der Auffassung der Beklagten nicht innerhalb von 7 Minuten zurückgelegt werden, denn es handele sich hierbei um eine Landstraße, die häufig von LKWs und landwirtschaftlichen Fahrzeugen befahren werde. Auch könne nicht davon ausgegangen werden, dass in der Praxis in A Stadt wie in BS. Termine zusammengelegt werden könnten, so dass nur zwei anstatt drei Fahrten erforderlich seien. Ebenso sei die Wartezeit der Pflegekraft während der Therapien zu berücksichtigen. Nach den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem 11. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungsrichtlinien – BRi) seien auch die zwangsläufig anfallenden Warte- und Begleitzeiten anzurechnen, wenn die Begleitperson zeitlich und örtlich gebunden sei. Es sei von einer zeitlichen und örtlichen Gebundenheit der Pflegeperson auszugehen (Hinweis auf: Bundessozialgericht, Az.: B 3 P 17/97 R). Maßgeblich sei somit die Zeit, die die Pflegeperson ausschließlich für die Abwicklung einer Hilfeleistung benötige und während der sie keine andere Tätigkeit ausführen könne. Somit zählten zwangsläufig anfallende Wartezeiten beim Arztbesuch des zu Pflegenden bzw. anlässlich ärztlich verordneter Therapien zum notwendigen Hilfebedarf. Vorliegend sei die Wartezeit der Pflegeperson ihrem Hilfebedarf hinzuzurechnen, da ihre Begleitung notwendig und eine andere Tätigkeit ihres Ehemannes (z.B. Einkäufe) nicht möglich sei. Gerade im ländlichen Bereich ergeben sich nicht immer Einkaufsmöglichkeiten und seien zudem mehrmals wöchentlich nicht erforderlich. Auch könne der Pflegeperson nicht zugemutet werden, während der Therapie nach Hause zu fahren, da er dort nur einige Minuten verbringen könne. Auch ein Verweis des Ehemannes der Klägerin auf das Lesen von Büchern und Zeitschriften sei nicht möglich, da nach dem Vortrag der Klägerin ihr Ehemann weder Bücher noch Zeitungen lese.

Gegen das ihr am 22. Juni 2010 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 15. Juli 2010 Berufung eingelegt.

Die Beklagte vertritt die Auffassung, die Fahrtstrecke von der Wohnung der Klägerin bis zur physiotherapeutischen Praxis in A-Stadt mit 5,26 km (laut Routenplaner) könne mit der Fahrtstrecke nach BS. mit 13,74 km (laut Routenplaner) nicht verglichen werden. Die laut Routenplaner für die Strecke nach A-Stadt benötigte Zeit von 7 Minuten könne wegen erhöhtem Verkehrsaufkommen auf der Landstraße lediglich um einige Minuten verlängert werden. Dies habe jedoch nicht zur Folge, dass die Voraussetzungen der Einstufung der Klägerin in die Pflegestufe II vorlägen. Auch könne aufgrund einer telefonischen Auskunft der Praxis in A-Stadt davon ausgegangen werden, dass eine Zusammenlegung der Krankengymnastik und Lymphdrainage auf einen Termin möglich sei. Ebenso sei es nicht Aufgabe der Beklagten, der Pflegeperson der Klägerin Möglichkeiten der eigenwirtschaftlichen Nutzung der Wartezeit aufzuzeigen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und anderer Sozialgerichte werde das Lesen lediglich beispielhaft als Tätigkeitsalternative der Pflegeperson während Wartezeiten aufgeführt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 19. Mai 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, das Sozialgericht habe mit dem angefochtenen Urteil eine zutreffende Entscheidung getroffen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Gerichtsakten und auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

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