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Landessozialgericht Hessen 29.01.2009, L 8 P 13/07

  • Spruchkörper: 8. Senat
  • Aktenzeichen: L 8 P 13/07
  • Instanzenaktenzeichen: S 12 P 4/06
  • Instanzgericht: Sozialgericht Kassel
  • Gericht: Hessisches Landessozialgericht
  • Entscheidungstyp: Urteil
  • Entscheidungsdatum: 29.01.2009
  • Rechtskraft: rechtskräftig

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Versicherungspflicht der Klägerin nach § 3 S. 1 Nr. 1a Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) als nichterwerbsmäßig tätige Pflegeperson ihres Ehemannes. Der 1946 geborene Ehemann wurde in den Jahren 1990 - 1997 mehrfach im unteren Bereich der Lendenwirbelsäule operiert. Es bestehen Mobilitätsstörungen der Beine sowie eine rezidivierende Spastik. Laut dem MDK-Gutachten des Arztes Dr. R. zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 21.01.2004 ist das Gehen wegen Taubheit und belastungsbedingter Spastik der Beine massiv eingeschränkt. Bewältigt werden könnten noch einige Schritte mittels Unterarmgehstützen innerhalb der Wohnung. In der Wohnung werde ein Selbstfahrerrollstuhl und im Freien ein Elektrorollstuhl benutzt. Hilfebedarf bestehe insbesondere bei der Ganzkörperwäsche, dem Duschen und Baden, dem Richten der Bekleidung sowie beim Stuhlgang und der Entleerung der Urinflasche nachts. Die Ehefrau sichere den Haushalt und die anfallende Grundpflege. Dr. R. kam in seinem Gutachten zu einem Zeitaufwand für die Grundpflege i. H. v. 59 Minuten pro Tag und für einen Zeitaufwand Hauswirtschaft i. H. v. 45 Minuten pro Tag. Es liege Pflegebedürftigkeit i. S. d. Pflegestufe I Sozialgesetzbuch - Elftes Buch – Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) vor. Eine wesentliche Veränderung zum Vorgutachten sei nicht erkennbar. Weiter wird in dem Gutachten ausgeführt, der von dem Ehepaar angegebene Pflegeaufwand über eine Pflegezeit von mehr als 28 Stunden pro Woche stimme nicht mit dem nunmehr gutachterlich festgestellten Hilfebedarf überein.

Die beigeladene Pflegekasse, die dieses Gutachten beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Hessen eingeholt hatte, gewährte dem Ehemann der Klägerin weiterhin Leistungen bei häuslicher Pflege nach Pflegestufe I. Der Klägerin, für die Pflichtbeiträge wegen ihrer Pflegetätigkeit für den Zeitraum vom 01.04.1995 bis 20.01.2004 entrichtet worden waren, teilte die Beigeladene mit Schreiben vom 22.04.2004 mit, sie könne keine Beiträge mehr für sie zahlen, weil nach dem Pflegegutachten vom 21.01.2004 der Pflegeaufwand für ihren Ehemann weniger als 14 Stunden wöchentlich betrage. Eine entsprechende Mitteilung machte die Beigeladene gegenüber der Beklagten unter Übersendung einer Kopie des Pflegegutachtens vom 21.01.2004. Die Klägerin erhob mit Schreiben vom 03.05.2004 gegenüber der Beigeladenen Einwände gegen deren Verfahrensweise. Die Beigeladene leitete dieses Schreiben an die Beklagte weiter. Diese beschied die Klägerin mit förmlichem Bescheid vom 25.05.2004 dahin, dass ihr bei der Beigeladenen gestellter Antrag auf Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen als Pflegeperson für die Zeit ab 21.01.2004 abgelehnt werde. Nach den Feststellungen der Pflegekasse liege der ausgeübte Umfang der Pflegetätigkeit unter 14 Stunden in der Woche und erreiche somit nicht das in § 3 Abs. 1 Nr. 1a SGB VI für die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung vorgesehene Mindestmaß von 14 Stunden wöchentlich. Hiergegen erhob die Klägerin am 10.06.2004 Widerspruch und machte geltend, die Pflegezeit liege über 28 Stunden, was sich aus Ziff. 1.4 des Pflegegutachtens vom 21.01.2004 ergebe. Die Beklagte beteiligte die Beigeladenen an dem Widerspruchsverfahren und gab ihr Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Beigeladene äußerte sich mit Schreiben vom 19.07.2004 dahingehend, dass die tägliche Pflegezeit nach wie vor laut dem Pflegegutachten nur 104 Minuten betrage. Der von der Klägerin und ihrem Ehemann gegenüber dem Gutachter angegebene Pflegeaufwand stimmt nicht mit dem Hilfebedarf überein. Er betrage nur 12,13 Stunden wöchentlich.

Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin gegen ihren Bescheid vom 25.05.2004 mit Widerspruchsbescheid vom 21.10.2004 als unbegründet zurück. Die Voraussetzungen für eine Versicherungspflicht nach § 3 S. 1. Nr. 1a SGB VI seien nicht erfüllt, da nach dem MDK-Gutachten der von der Klägerin angegebene Pflegeaufwand nicht mit dem ermittelten Hilfebedarf übereinstimme. Die Feststellung des zeitlichen Umfanges der von der Pflegeperson ausgeübten Pflegetätigkeit liege im Verantwortungsbereich der Pflegekasse. Der Rentenversicherungsträger sei an diese Feststellung gebunden. Somit sei von einem Umfang der Pflegetätigkeit, der unter 14 Stunden in der Woche liege, auszugehen.

Die Klägerin erhob am 22.11.2004 Klage beim Sozialgericht Kassel mit dem Klageziel festzustellen, dass sie über den 20.01.2004 hinaus als nichterwerbsmäßig tätige Pflegeperson in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig sei. Sie trug vor, nach § 19 SGB XI werde bei der Feststellung der Mindeststundenzahl nicht nur die Arbeitszeit gerechnet, die auf Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung entfalle und für die Feststellung des Grades der Pflegebedürftigkeit maßgebend sei, sondern auch die Zeit, die für die ergänzende Pflege und Betreuung i. S. d. § 4 Abs. 2 S. 1 SGB XI benötigt werde. Sie leiste ihrem im Rollstuhl sitzenden Ehemann tagtäglich eine Vielzahl notwendiger Handreichungen, die von der Pflegestufenbegutachtung und ihrem Zeitkorridoren überhaupt nicht erfasst würden, etwa solche zur Erfüllung kommunikatorischer Bedürfnisse etc. Nach dem MDK-Gutachten vom 21.01.2004 habe sich der Pflegebedarf ihres Ehemannes gegenüber den Vorbegutachtungen auch nicht verringert. Es sei auch so, dass sich der Gesundheitszustand ihres Ehemannes durch Luftnot verschlechtert habe, so dass besondere Versorgung, Beobachtung und Betreuung erforderlich sei. Die Beklagte und die Beigeladene hielten an ihren im Verwaltungsverfahren vertretenen Auffassungen fest.

Das Sozialgericht wies die Klage mit Urteil vom 28.02.2007 ab. Die zulässige Klage sei nicht begründet. Die Beklagte habe zu Recht auf den nach dem SGB XI für die Pflegestufenzuordnung maßgeblichen Hilfebedarf abgestellt, welcher nach dem inhaltlich nicht zu beanstandenden MDK-Gutachten ab 21.01.2004 104 Minuten und damit weniger als 14 Stunden wöchentlich betrage. Entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin könne nur auf den für die Bestimmungen der Pflegestufe relevanten Hilfebedarf abgestellt werden. Der Hinweis in § 19 SGB XI, wonach Pflegepersonen i. S. d. SGB XI Personen seien, die nicht erwerbsmäßig einen Pflegebedürftigen i. S. d. § 14 SGB XI in seiner häuslichen Umgebung pflegen, sei allein dahingehend zu verstehen, dass leistungsauslösend auch in diesem Zusammenhang nur Pflegeleistungen im Rahmen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung sein könnten. Dies gelte umso mehr als die von der Klägerin in Bezug genommenen Gesetzesmaterialien keine nähere Begründung für die von ihr vertretene Auffassung lieferten. Da ein primär nach dem SGB XI leistungsberechtigter Pflegebedürftiger Leistungen überhaupt nur erhalte, wenn ein verrichtungsbezogener Hilfebedarf in einem zeitlichen Umfang bestehe, wie er in § 15 SGB XI geregelt sei, habe dies auch in Bezug auf den Anspruch der Pflegeperson auf die Gewährung von Leistungen zur sozialen Sicherung maßgeblich zu sein. Es ergäben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber unterschiedliche Leistungsmaßstäbe zur Anwendung hätte bringen wollen, zumal dies auch der Gesetzessystematik zuwiderlaufen würde. Legte man die von der Klägerin vertretene Rechtsauffassung zu Grunde, so könnten selbst diejenigen Pflegepersonen rentenversicherungspflichtig werden, die einen Pflegebedürftigen nicht erwerbsmäßig pflegten, der wegen des Nichterreichens eines Hilfebedarfes von täglich 90 Minuten oder eines grundpflegerisches Hilfebedarfes von allein 45 Minuten täglich keine Leistungen nach dem SGB XI erhielte. Eine solche Verfahrensweise sehe das Gesetz ausdrücklich nicht vor. Die hier zu Grunde gelegte Gesetzesinterpretation habe auch das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen in seinem Urteil vom 12.02.2002 (L 3 P 7/01) vertreten. Die gegenteilige Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfahlen vom 03.06.2005 (L 4 RJ 58/04), auf die sich die Klägerin beziehe, widerlege die dargelegten Argumente nicht.

Bei der Entscheidung des zuständigen Rentenversicherungsträgers über das Bestehen von Versicherungs- und Beitragspflicht der Pflegeperson seien die Feststellungen der Pflegekasse zur Pflegebedürftigkeit, zur Pflegestufe und zum Umfang der von der Pflegeperson ausgeübten Pflegetätigkeit zu Grunde zu legen. Insoweit habe die Pflegekasse diese Vorfrage der Versicherungspflicht abschließend zu klären (Hinweis auf Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21.03.2006, L 1 B 87/05 KR).

Ein höherer verrichtungsbezogener und damit allein berücksichtigungsfähiger täglicher Hilfebedarf von mehr als 109 Minuten täglich sei auf der Grundlage des Vorbringens der Klägerin nicht zu erkennen, zumal diese auf weitere nach dem SGB XI nicht einstufungsrelevante Hilfeleistungen abstelle. Da der Gesetzgeber in Abkehr von den Regelungen der §§ 53 ff. Sozialgesetzbuch - Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) der Pflegeversicherung nur eine das bisherige System ergänzende Funktion zukommen habe lassen, müsse unberücksichtigt bleiben, dass eine Vielzahl von Kranken und Behinderten krankheits- und behinderungsbedingt sowie lebensnotwendig vermehrt der Betreuung, z. B. im psychosozialen Bereich bedürften. Auch wenn nicht zu verkennen sei, dass die Nichtberücksichtigung solcher Hilfebedarfe zu Härten und letztlich auch dazu führen könne, dass die mit der Einführung der Pflegeversicherung verbundene Zielsetzung einer Stärkung häuslicher Pflege geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werde, sei dies allenfalls sozialpolitisch nicht jedoch rechtlich zu beanstanden (Hinweis auf die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 22.05.2003, 1 BvR 452/93 und 1 BvR 1077/00 sowie Urteile des Bundessozialgerichts vom 19.02.1998, B 3 P 3/97 R und B 3 P 7/97 R sowie Urteil vom 29.04.1999, B 3 P 7/98 R). Angesichts dessen wäre es systemwidrig die über diese richtungsbezogenen Hilfen hinausgehenden Hilfen bei der Beurteilung der Rentenversicherungspflicht nichterwerbsmäßiger Pflegepersonen dennoch zu berücksichtigen. Auch habe das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 23.09.2003 (B 12 P 2/02 R) auf § 166 Abs. 2 SGB XI hingewiesen, wonach auch hinsichtlich der Beitragsbemessungsgrundlage nicht nur auf die jeweilige Stufe der Pflegebedürftigkeit abzustellen sei, sondern zusätzlich innerhalb der Stufen nach dem tatsächlich zeitlichen Pflegeaufwand differenziert werde und somit auch dort allein der verrichtungsbezogene und damit einstufungsrelevante Hilfebedarf maßgeblich sei.

Zumindest für den hier allein maßgeblichen Zeitpunkt 21.04.2004 (richtig muss es heißen 21.01.2004) seien die angefochtenen Bescheide auf der Grundlage des Vorbringens der Klägerin nicht zu beanstanden. Soweit sich der Gesundheitszustand ihres Ehemannes zwischenzeitlich verschlechtert und dies zu einem höheren Pflegeaufwand geführt haben sollte, stehe es der Klägerin bzw. ihrem Ehemann frei, dies unabhängig vom vorliegenden Klageverfahren durch die Beigeladene prüfen zu lassen.

Gegen das ihr am 28.03.2007 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 30.04.2007 Berufung eingelegt.

Sie wiederholt und vertieft ihr Vorbringen zu den rechtlichen Vorgaben für die Bestimmung der Mindeststundenzahl nach § 3 S. 1 Nr. 1a SGB VI. Das Sozialgericht habe sich nicht hinreichend mit den Gesetzesmaterialien und der Literatur zu dieser Rechtsfrage auseinandergesetzt. Die von ihm gezogene Schlussfolgerung aus dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 23.09.2003 (B 12 P 2/02 R) sei nicht tragfähig, da es sich nur um ein obiter dictum handle. Auch habe das Sozialgericht den Sachverhalt nicht hinreichend ausgewertet. Es hätte eigene Ermittlungen zum Pflegezustand des Ehemannes der Klägerin durchführen und ggf. Beweis erheben müssen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 28.02.2007 und den Bescheid der Beklagten vom 25.05.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.10.2004 aufzuheben und festzustellen, dass sie über den 20.01.2004 hinaus als nicht erwerbstätige Pflegeperson in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist,

hilfsweise,

die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt weiter vor, die Feststellung der Pflegebedürftigkeit habe für die Träger der Rentenversicherung Tatbestandswirkung mit der Folge, dass diese an die Entscheidung der Pflegekasse über das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit gebunden seien. Die maßgebliche Rechtsfrage habe das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz in seinem Urteil vom 01.02.2006 (L 6 R 114/05) wie das Sozialgericht Kassel beurteilt.

Die Beigeladene macht sich die Berufungserwiderung der Beklagten zur eigen und beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und der Beigeladenen Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung des Senats gewesen sind. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

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