Landessozialgericht Hessen 27.08.2009, L 8 P 35/07
- Spruchkörper: 8. Senat
- Aktenzeichen: L 8 P 35/07
- Instanzenaktenzeichen: S 3 P 27/06
- Instanzgericht: Sozialgericht Wiesbaden
- Gericht: Hessisches Landessozialgericht
- Entscheidungstyp: Urteil
- Entscheidungsdatum: 27.08.2009
- Rechtskraft: rechtskräftig
Tatbestand:
Der Kläger begehrt Leistungen der Pflegeversicherung in Form von Pflegegeld nach der Pflegestufe I bei häuslicher Pflege.
Der 1946 geborene Kläger ist an einem Frontalhirnsyndrom nach Alkoholkrankheit, an einer paranoiden Schizophrenie, einer Antriebsminderung bei schizoaffektiver Störung, einem Diabetes mellitus, Adipositas, Bluthochdruck sowie einem Neuroleptikum-induzierten Parkinsonoid erkrankt. Er lebt in einem Mehrfamilienhaus in einer eigenen Wohnung und wird von seiner Schwester, die zur gesetzlichen Betreuerin bestellt ist und im gleichen Hause wohnt, versorgt. Auf den Antrag des Klägers vom 28. November 2005 auf Gewährung von Pflegegeld veranlasste die Beklagte eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), die auf der Grundlage einer am 26. Januar 2006 in häuslicher Umgebung erfolgten Untersuchung durch die Ärztin C. erfolgte. Diese führte in ihrem schriftlichen Gutachten aus, der Kläger sei aufgrund der Begutachtungssituation psychomotorisch unruhig gewesen. Es läge jedoch, obwohl er über das Hören von Stimmen klage, keine floride psychische Symptomatik vor. Formale oder inhaltliche Denkstörungen seien nicht gegeben. Insgesamt benötige der Kläger, der sich ohne Gehhilfen bewegen könne, überwiegend im hauswirtschaftlichen Bereich der Hilfe. Seine Fähigkeit, eigenständig den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren, sei nicht vorhanden. Im Bereich der Grundpflege benötige er Pflegehilfen für die Körperpflege beim Duschen, bei der Zahnpflege, beim Kämmen und beim Rasieren, bei der mundgerechten Zubereitung der Nahrung sowie im Bereich der Mobilität in den Bereichen An- und Entkleiden. Insgesamt stellte sie den Zeitaufwand der Grundpflege mit 32 Minuten täglich fest, den Zeitaufwand im Bereich der Hauswirtschaft mit 45 Minuten täglich im Wochendurchschnitt. Gestützt auf dieses Gutachten lehnte die Beklagte, bei der der Kläger gesetzlich pflegeversichert ist, den Leistungsantrag mit Bescheid vom 1. Februar 2006 ab. Die Betreuerin des Klägers erhob Widerspruch und legte Aufzeichnungen zur Pflegesituation vor. Die aufgrund des Widerspruchs eingeleitete Zweitbegutachtung durch den MDK fand am 2. Mai 2006 durch die Pflegefachkraft Frau D. in häuslicher Umgebung statt. Die Gutachterin schätzte den Zeitaufwand in der Grundpflege mit 33 Minuten pro Tag ein und bestätigte im Wesentlichen das Vorgutachten. Hierauf wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24. August 2006 den Widerspruch als unbegründet zurück. Der berücksichtigungsfähige festgestellte Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege erreiche die für die Einstufung in die Pflegestufe I erforderliche tägliche Mindestpflegezeit von mehr als 45 Minuten nicht.
Der Kläger erhob über seine Betreuerin am 31. August 2006 beim Sozialgericht Wiesbaden Klage. Das Sozialgericht holte ein Pflegegutachten bei der Pflegefachkraft und staatlich anerkannten Altenpflegerin mit Tätigkeiten im Bereich der Pflegedienstleistung/Pflegekoordination Frau E. ein, das auf der Grundlage einer Untersuchung im häuslichen Umfeld unter dem Datum vom 8. Januar 2007 erstellt wurde. Nach Anhörung der Betreuerin des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung wies das Sozialgericht mit Urteil vom 24. Oktober 2007 die Klage auf Leistungen nach Pflegestufe I ab Antragstellung ab. Auf der Grundlage des gerichtlichen Sachverständigengutachtens der Frau E. schätzte das Sozialgericht den Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege auf 33 Minuten täglich, so dass der für die Pflegestufe I erforderliche Zeitaufwand nach § 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch – Elftes Buch – Soziale Pflegeversicherung (SGV XI) von mehr als 45 Minuten nicht erreicht werde. Im Hinblick darauf, dass drei Gutachten im Verlauf von einem Jahr praktisch zum selben Begutachtungsergebnis gekommen sind, hätten sich für die Kammer keine begründbaren Zweifel an diesem Ergebnis ergeben. Im Rahmen des ausführlichen Rechtsgespräches mit der Betreuerin habe sich gezeigt, dass diese den entscheidenden rechtlichen Unterschied zwischen erforderlichen Pflegehilfen im Bereich der Grundpflege (sogenannte Katalogverrichtungen) und der von der Betreuerin unzweifelhaft für ihren Bruder geleisteten umfangreichen und umfassenden Betreuung nicht verstanden habe. So seien insbesondere Hilfen im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung, wie etwa die Zubereitung der Mahlzeit für den an Diabetes mellitus erkrankten Kläger, nicht dem Bereich (Grund-)Pflege zuzuordnen. Betreuungserfordernisse außerhalb der Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität seien auch dann, wenn sie nicht einer sogenannten "Überversorgung" zugeordnet werden könnten, der Grundpflege nicht zuzurechnen. Die Pflegeversicherung beinhalte lediglich eine Teilversicherung im Bereich der Pflege.
Gegen dieses am 10. November 2007 zugestellte Urteil hat der nunmehr anwaltlich vertretene Kläger am 6. Dezember 2007 Berufung eingelegt. Im Laufe des Klageverfahrens ist von Klägerseite ein vorläufiger Entlassungsbericht des F. in A., Medizinische Klinik II vom 20. September 2007 über eine stationäre Behandlung vorgelegt worden, aus dem sich ergibt, dass im Zusammenhang mit der Diabetes-Erkrankung ein metabolisches Syndrom aufgetreten war und für den Fall, dass sich der Blutzucker nicht mehr diätisch und medikamentös einstellen lasse, eine Umstellung auf Insulin empfohlen wurde.
Die Beklagte hat eine Stellungnahme der Ärztin im MDK G. vom 16. Juni 2008, erstellt nach Aktenlage, vorgelegt. In dieser wird berichtet, dass eine erneute Begutachtung durch den MDK in häuslicher Umgebung am 28. Januar 2008 erfolgt sei, welche einen grundpflegerischen Hilfebedarf von 25 Minuten erbracht habe.
Der Senat hat sodann zunächst Befundberichte von den behandelnden Ärzten eingeholt. Der Arzt für Allgemeinmedizin Dr. H. hat in seinem Bericht vom 25. November 2008 mitgeteilt, er behandele den Kläger wegen Diabetes mellitus und Hypertonus. Aus diesen Erkrankungen ergäben sich keine Funktionseinschränkungen, welche Pflege erforderlich machten. Der Kläger besuche ihn ca. zweimal im Monat in seiner Praxis und könne diese eigenständig ohne eine Begleitperson aufsuchen. Das Zentrum für Soziale Psychiatrie I., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie J., Ambulanz A., hat in seinem von den Ärzten Dr. L. und Dr. M. unterzeichneten Befundbericht vom 23. Dezember 2008 ausgeführt, der Kläger stelle sich regelmäßig in der hiesigen Ambulanz in etwa 4- bis 6-wöchigen Abständen vor. Er könne eigenständig in die Institutsambulanz zur Konsultation kommen. Diagnostisch handele es sich um eine residuale Symptomatik bei langjährig bestehender paranoider Schizophrenie. Hinzu komme eine organische Wesensänderung mit gereizt maniformem Verhalten und impulsiven Impulskontrollstörungen nach langjährigem Alkoholabusus, bei derzeitiger weitgehender Alkoholabstinenz. Bei der letzten Vorstellung am 24. Oktober 2006 hätten sich keine richtungsweisenden Anhaltspunkte für eine maniforme Auslenkung im Verhalten des Betroffenen ergeben. Die intellektuelle Leistungsfähigkeit zeige sich deutlich beeinträchtigt. Das Leben des Klägers finde hauptsächlich im "Hier und Jetzt" statt. Es bestehe eine gesetzliche Betreuung, da der Kläger sich nicht in der Lage zeigte, insbesondere seine finanziellen Angelegenheiten selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu regeln. Er benötige bei nahezu allen Alltagsverrichtungen aus den Bereichen Körperpflege, Ernährung und Tagesplanung der Hilfe durch eine Pflegeperson im Sinne von Übernahme, Unterstützung oder Beaufsichtigung.
Der Senat hat sodann durch Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens über den Pflegebedarf des Klägers Beweis erhoben. Der zum gerichtlichen Sachverständigen bestellte Herr N., staatlich examinierte Pflegekraft, hat das Gutachten auf der Grundlage einer am 20. Februar 2009 in Gegenwart der Schwester des Klägers durchgeführten Untersuchung im häuslichen Umfeld erstellt. Der Sachverständige führt in seinem schriftlichen Gutachten vom 20. Februar 2009 aus, der Kläger sei voll orientiert über den Gegenstand der Untersuchung gewesen, er habe im Antrieb nicht merklich reduziert gewirkt, auch nicht depressiv. Die Hirnleistung sei nur für komplexe Aufgaben eingeschränkt, nicht für Routinetätigkeiten. Der Kläger messe seinen Blutzucker selbständig und trage die Werte auch selbständig ordentlich in ein Blutzuckertagebuch ein. Die Termine beim Hausarzt würden selbständig und unter Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wahrgenommen. Inkontinenzen lägen beim Kläger nicht vor, er könne die Toilettengänge selbständig ausführen. Die Manualfunktionen seien nicht relevant herabgesetzt, abgesehen davon, dass im linken Arm eine reduzierte Kraftausübung vorliege. Dass der Kläger, wie angegeben, Hilfe bei den Duschvorgängen benötige, sei wegen des Auftretens von Schwindelerscheinungen nachvollziehbar. Die Pflegeabläufe seien detailliert besprochen worden. Einzelne Verrichtungen direkt in Augenschein genommen und die Schilderungen auf Notwendigkeit und Plausibilität überprüft worden. Der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege sei beim Kläger in Höhe von insgesamt 31 Minuten täglich im Wochendurchschnitt und für den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung mit 60 Minuten anzusetzen. Im Bereich der Körperpflege fielen für das viermalige Duschen in der Woche mit 2-maligem Haarewaschen umgelegt täglich 12 Minuten, für an weiteren 3 Wochentagen durchgeführte Hilfen bei der Ganzkörperwäsche vor dem Waschbecken sitzend umgelegt täglich 7 Minuten, für das Kämmen der Haare im Hinterkopfbereich 1 Minute, für das Stutzen des Bartes täglich 1 Minute, für die Zahnpflege in Form des Reinigens der Zahnprothese 2 Minuten und für die tägliche Hand-/Gesichtswäche 2 Minuten an. Im Bereich der Mobilität seien Hilfen beim Ankleiden im Umfang von 3 Minuten täglich und beim Entkleiden von 2 Minuten täglich anzusetzen, für den Bereich der Ernährung Hilfen in Form der mundgerechten Vorbereitung des Mittagessens, insbesondere das Heraustrennen von Knochen, im Umfang von 1 Minute täglich. Die Befundbeschreibung in dem MDK-Gutachten vom 26. Januar 2006 zeige im Vergleich zu der aktuellen Begutachtung keine wesentlichen grundpflegerisch-relevanten Abweichungen auf. Im Bezug auf die nach dem SGB XI grundpflegerisch relevanten Tätigkeiten sei der Kläger mit Ausnahme des Duschens bei erhöhter Sturzgefahr weder im geistigen, seelischen oder körperlichen Bereich erheblich eingeschränkt. Ein starker intellektueller Abbau im Sinne einer dementiellen Symptomatik liege nicht vor. Wesentliche motorische Funktionsausfälle seien trotz des neurologischen Parkinsonoids nicht vorhanden. Eine die Grundpflege stark beeinträchtigende psychiatrische Symptomatik, etwa im Sinne einer schweren depressiven Verstimmung, sei ebenfalls nicht gegeben. Allerdings benötige der Kläger wegen seiner Grunderkrankung täglich tagesstrukturierende Vorgaben, weiter der Ansprache, Anregung, Betreuung und Beschäftigung, was von seiner Schwester umfassend geleistet werde. Auf Einwände des Klägervertreters hat der Sachverständige sein Gutachten unter dem 9. April 2009 ergänzt und ausgeführt, die von ihm für das An-, Ein- und Entkleiden angesetzten Zeitwerte seien niedriger als die in den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungsrichtlinien – BRi) ausgewiesenen Zeitkorridore, da der Kläger mit seinen gesundheitlichen Einschränkungen für die Grundpflegemaßnahmen keinen hohen Hilfebedarf habe. So benötige er nur Korrekturhilfen beim An- und Auskleiden, nicht die völlige Übernahme dieser Handlungen. Das Reinigen der Zahnprothese habe er selbst vorgeführt, so dass auch insoweit nur ein geringer Unterstützungsbedarf bestehe. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass sich die angesetzten Minutenwerte nicht auf den einzelnen Vorgang, wie etwa das Duschen oder die Ganzkörperwäsche bezögen, sondern sich durch die geforderte Umrechnung auf den Wochentag ergeben würden. So sei für das Duschen mit anteiliger Haarwäsche ein Hilfebedarf von 21 Minuten pro Vorgang und für die Ganzkörperwäsche mit 17 Minuten pro Vorgang angesetzt worden, was angesichts der verbliebenen Fähigkeiten des Klägers eher großzügig als zu knapp bemessen sei. Die Angaben in dem Befundbericht des Zentrums für soziale Psychiatrie I. vom 23. Dezember 2008 führten zu keinem anderen Ergebnis, da Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung im Rahmen der Bemessung des Grundpflegeaufwandes nicht berücksichtigungsfähig seien und bei den Zeitwerten immer auf die örtliche und zeitliche Gebundenheit der Pflegeperson abzustellen sei.
Der Kläger trägt über seinen Bevollmächtigten vor, er trage nicht nur bequeme Tageskleidung, sondern auch Kleidung mit Knöpfen oder Verschlüssen, weshalb für das Anziehen täglich 10 Minuten und für das Auskleiden 6 Minuten anzusetzen seien. Dabei sei zu berücksichtigen, dass ein Zittern der Hände auftrete und der rechte Arm nur eingeschränkt einsetzbar sei. Für die Zahnpflege seien 6 Minuten anzusetzen; sie finde 3-mal täglich statt und bestehe nicht nur im Abbürsten der Prothese. Auch die Hilfen im Rahmen der Ernährung seien zu gering angesetzt, da die mundgerechte Vorbereitung auch beim Frühstück und Abendessen notwendig sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 24. Oktober 2007 und den Bescheid der Beklagten vom 1. Februar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 28. November 2005 Pflegegeld nach der Pflegestufe I zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das sozialgerichtliche Urteil für zutreffend und durch das vom Senat eingeholte Gutachten für bestätigt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.