Landessozialgericht Hessen 29.04.2014, L 3 U 211/10

  • Aktenzeichen: L 3 U 211/10
  • Spruchkörper: 3. Senat
  • Instanzenaktenzeichen: S 2 U 55/08
  • Instanzgericht: Sozialgericht Kassel
  • Gericht: Hessisches Landessozialgericht
  • Rechtskraft: rechtskräftig
  • Entscheidungstyp: Urteil
  • Entscheidungsdatum: 29.04.2014

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Bewilligung einer Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.

Die Klägerin war seit 1961 mit dem Versicherten, dem 1938 geborenen B. A. (im Folgenden: Versicherter), verheiratet. Dieser arbeitete als Zahntechniker und litt an einer Silikose. Die Beklagte erkannte mit Bescheid vom 19. Juni 1975 eine Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) als Berufskrankheit sowie als deren Folgen eine mittelschwere restriktive und mäßige obstruktive Ventilationsstörung der Atmung bei Silikose III. Grades an und bewilligte dem Versicherten eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 v. H. Mit Bescheid vom 29. Mai 2000 bewilligte ihm die Beklagte eine Verletztenrente nach einer MdE von nunmehr 60 v. H. aufgrund einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse, weil inzwischen eine schwergradige obstruktive Ventilationsstörung mit schwergradiger Lungenüberblähung und eine erhebliche Störung der Lungenbelüftung bestehe.

Unter dem 20. Februar 2007 verordnete der Hausarzt des Versicherten, Dr. G., ihm eine Krankenhausbehandlung wegen protrahiertem Gewichtsverlust, therapieresistenter Diarrhö und einer mittlerweile raschen Verschlechterung des Allgemeinzustandes. Am selben Tag wurde der Versicherte im Kreiskrankenhaus Eschwege mit der Diagnose "abnorme Gewichtsabnahme (R63.4)" aufgenommen. Ausweislich des Berichts des Chefarztes der Abteilung für Gastroenterologie Dr. C. (vom 13. März 2007) sei der Versicherte in reduziertem Allgemeinzustand und normalem Ernährungszustand aufgenommen worden. Aufgrund eines Ganzkörperszintigramms wurde der Verdacht auf knöcherne Tumoransiedelungen geäußert. Nach einer Leberpunktuation wurde eine histologische Untersuchung durchgeführt. Diese habe für ein mäßig differenziertes Adenokarzinom des Gallenganges gesprochen. Daraufhin lehnte der Versicherte weitere Therapie und Diagnostik ab. Er wurde auf eigenen Wunsch am 12. März 2007 entlassen.

Am 14. April 2007 verstarb der Versicherte.

Mit Bescheid vom 31. Juli 2007 bewilligte die Beklagte der Klägerin eine einmalige Hinterbliebenenbeihilfe in Höhe von 17.167,31 EUR. Die Bewilligung einer Hinterbliebenenrente lehnte sie ab, weil nicht der Versicherungsfall (Silikose), sondern ein differenzierter Gallenblasenkrebs (Adenokarzinom des Gallenganges) Todesursache gewesen sei. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 2008 zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass bei dem Versicherten ein Primärtumor im Bereich des Gallenganges vorgelegen habe, der bereits zur Metastasenbildung geneigt habe, während keine Hinweise auf ein Bronchialkarzinom erkennbar gewesen seien. Die wegen der Berufskrankheit erforderlichen Behandlungen seien nicht mitwirkende Todesursache gewesen und hätten auch den Tod nicht um mindestens ein Jahr beschleunigt.

Dagegen hat die Klägerin am 12. März 2008 Klage beim Sozialgericht Kassel erhoben.

Zur Begründung hat sie vorgetragen, die Grunderkrankung (Silikose mit obstruktiven Ventilationsstörungen, Lungenüberblähung, ventilatorische Insuffizienz und Hypertonie) habe den Kräftezustand des Versicherten reduziert. Es sei nicht erwiesen, dass ein differenziertes Gallenblasenkarzinom zum Tod geführt habe. Weder in Leber noch in den Gallengängen sei ein Primärtumor gefunden worden. Der Primärtumor sei dort lediglich vermutet worden, wogegen jedoch das Vorliegen des Skelettbefalls und ein fehlender Ikterus spreche. Auch Bronchialkarzinome könnten als Adenokarzinome vorliegen und in Leber und Skelett streuen. Wahrscheinlich sei vielmehr, dass aufgrund der beruflichen Exposition und Grunderkrankung ein Bronchialkarzinom gewachsen und damit die anerkannte Berufskrankheit unmittelbar kausal für den Tod des Versicherten gewesen sei. Selbst wenn ein Karzinom vorgelegen habe, das nicht unmittelbar auf die anerkannte Berufskrankheit zurückzuführen sei, hätte sich die über Jahrzehnte bestehende Berufskrankheit aufgrund ihrer Auswirkungen auf den Allgemeinzustand und die Immunabwehr lebensverkürzend ausgewirkt. Außerdem habe wegen der Silikose keine onkologische Therapie durchgeführt werden können. Wenn bei dem Versicherten ein Tumorbefund vorgelegen hätte, dann wäre nach dem Primärtumor gefahndet und eine Chemo- oder Radiotherapie durchgeführt worden.

Das Sozialgericht hat von Amts wegen ein internistisches Gutachten bei Prof. Dr. Dr. h.c. D. eingeholt. In seinem Sachverständigengutachten vom 21. September 2009 hat dieser bei dem Versicherten unter anderem ein ossär metastasiertes Karzinom der Gallengänge festgestellt. Ein Adenokarzinom könne prinzipiell in allen Geweben entstehen, die Drüsenzellen enthielten, beispielsweise in den Gallengängen und dem Bronchialsystem. Die immunhistochemische Untersuchung habe ein ausgesprochen desmoplastisches mäßig differenziertes Adenokarzinom gezeigt, für das differentialdiagnostisch ein Gallengangkarzinom oder ein Karzinom der kleinen intrahepatischen Gallengänge in Betracht komme. Hinweise auf das Vorliegen einer Lebermetastase eines Adenokarzinoms der Lunge hätten sich nicht ergeben. Für ein Bronchialkarzinom bestünden keine Hinweise. Ein Tumor der Gallenblase könne nicht nachgewiesen werden. Ein differenziertes Gallenblasenkarzinom könne daher nicht gesichert werden. Typische Symptome eines Gallengangkarzinoms seien schmerzloser Ikterus, Juckreiz, entfärbter Stuhl, Gewichtsverlust und Schmerz im rechten Oberbauch. Mit Ausnahme der Einweisungsdiagnose Gewichtsverlust würden bei dem Versicherten die anderen Symptome weder erwähnt noch ausgeschlossen, was die Beurteilung der therapeutischen Optionen erschwere. Bei einem Gallengangkarzinom betrage die Überlebenszeit nach Diagnosestellung ohne palliative Chemotherapie drei bis sechs Monate. Mit palliativer Chemotherapie lasse sich die Lebensqualität verbessern und damit sekundär die Überlebenszeit steigern. Ursächlich für den Tod des Versicherten sei im Wesentlichen der Progress der beschriebenen Tumorerkrankung gewesen. Die anerkannte Berufskrankheit sei an der raschen Progredienz der Tumorerkrankung und damit am Tod beteiligt, da der Versicherte aufgrund der Grunderkrankung und des schlechten Allgemeinzustandes auf eine palliative Chemotherapie verzichtet habe. Angesichts einer medianen Überlebenszeit eines metastasierten Gallengangkarzinoms von etwa vier Monaten wäre durch eine geeignete palliative Therapie eine Verlängerung des Überlebens um einige Monate möglich gewesen. Bei dem Versicherten sei aber aufgrund der anerkannten Berufskrankheit keine palliative Chemotherapie durchgeführt worden, sodass die Berufskrankheit den Tod beschleunigt habe, aber nicht ursächlich gewesen sei.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 10. September 2010 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Versicherte sei offenkundig nicht an den Folgen der Berufskrankheit, sondern an einem schicksalsbedingten Leiden verstorben, sodass die Rechtsvermutung des § 63 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung – (SGB VII) widerlegt sei. Denn der Versicherte sei ausschließlich an einem Tumor der intrahepatischen Gallenwege verstorben. Der Tod sei aber offensichtlich nicht wesentlich durch eine Berufskrankheit verursacht, wenn die Todesursache von einem Organ ausgehe, das durch die Berufskrankheit nicht betroffen sei. Für ein Bronchialkarzinom bestünden hingegen keine Anhaltspunkte. Der Umstand, dass ein Primärtumor nicht gefunden worden sei, begründe lediglich eine entfernt liegende, rein theoretische Möglichkeit, wodurch aber die Widerlegung der Offenkundigkeit nicht verhindert werden könne. Schließlich habe die Berufskrankheit den Tod auch nicht um wenigstens ein Jahr beschleunigt.

Gegen das der Klägerin am 23. September 2010 zugestellte Urteil hat sie am 21. Oktober 2010 Berufung zum Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt. Auf Antrag der Klägerin hat der Senat ein internistisch-pneumologisches Gutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz – SGG – bei Dr. F. eingeholt. In seinem Gutachten vom 9. März 2013 führt dieser aus, dass bei dem Versicherten der dringende Verdacht auf ossäre Metastierung eines primären Gallengangkarzinoms bestehe, während das Vorliegen eines Bronchialkarzinoms nicht wahrscheinlich sei, allerdings auch nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden könne. Der Tod des Versicherten sei damit nicht auf die als Berufskrankheit anerkannte Quarzstaublungenerkrankung zurückzuführen. Die Berufskrankheit habe aber möglicherweise die Diagnose eines Leber- oder Gallengangkarzinoms mittelbar verzögert, da die körperlichen Beschwerden möglicherweise auf die seit Jahren fortbestehenden Folgen der Berufserkrankung zurückgeführt worden seien. Denn auch bei fortgeschrittener Lungenerkrankung könne ein progredienter Gewichtsverlust auftreten (pulmonale Kachexie). Ohne die Berufserkrankung hätte die Gallenwegserkrankung mit Wahrscheinlichkeit früher diagnostiziert werden müssen. Personen mit Leberkarzinom würden zwar bis sechs Monate nach Diagnosestellung sterben. Jedoch bestehe bei früher Erkrankung die Möglichkeit der chirurgischen Resektion, wodurch eine Lebensverlängerung erreicht werden könne. Wenn Tumore entdeckt würden, bevor sie Symptome auslösten, könne eine Überlebensrate von 54% nach einem Jahr, 40% nach zwei Jahren und 28% nach drei Jahren erreicht werden. Der Tumor sei bei dem Versicherten jedoch erst entdeckt worden, nachdem Symptome – die Gewichtsabnahme – aufgetreten seien, die chirurgische Interventionsmöglichkeiten unmöglich gemacht hätten. Nach den bei rechtzeitiger Diagnose vorliegenden veröffentlichten Zahlen hätte der Tod des Versicherten um mehr als ein Jahr aufgehalten werden können.

Die Klägerin trägt vor, entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sei nicht nachgewiesen, dass bei dem Versicherten ein Gallengangkarzinom vorgelegen und dies zum Tod geführt habe. Weder in der Leber noch in den Gallengängen sei ein Primärtumor gefunden worden. Gegen die Ansicht des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. h.c. D. spreche, dass das Skelett befallen sei und ein Ikterus fehle. Es sei unwahrscheinlich, dass ein Gallengangkarzinom auf das Skelett streue, insbesondere dann, wenn die regionalen Lymphknoten nicht befallen seien. Demgegenüber streuten Bronchialkarzinome relativ häufig in Leber und Skelett. Metastasen eines Bronchialkarzinoms würden teilweise zufällig entdeckt, während der Primärtumor häufig nicht gefunden werde. 25% der Bronchialkarzinome seien Adenomkarzinome. Es stelle sich daher die Frage, ob bei der Untersuchung im Kreiskrankenhaus Eschwege überhaupt an die Differentialdiagnose Bronchialkarzinom gedacht worden sei. Die Rechtsvermutung des § 63 Abs. 2 Satz 1 SGB VII sei damit nicht widerlegt. Selbst wenn ein Karzinom vorgelegen habe, das nicht unmittelbar auf die anerkannte Berufskrankheit zurückgeführt werden könne, habe sich die Berufskrankheit zumindest lebensverkürzend ausgewirkt. Aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen Dr. F. sei davon auszugehen, dass die anerkannte Berufskrankheit die Diagnose primäres Leberkarzinom oder Gallengangkarzinom richtungsweisend verzögert habe. Es sei sogar hinreichend wahrscheinlich, dass wegen der anerkannten Berufskrankheit die erforderliche onkologische Behandlung des Versicherten nicht durchgeführt und dadurch der Tod des Versicherten verursacht bzw. um mindestens ein Jahr beschleunigt worden sei. Ein Ikterus habe bei der stationären Aufnahme am 20. Februar 2007 nicht bestanden. Andernfalls wäre dies im Aufnahmebefund erwähnt worden. Der Versicherte habe seiner Umgebung auch nicht mitgeteilt, dass er unter Durchfall litt. Infolge seiner langen schweren Krankheit habe sich sein Wesen verändert. Die Entscheidung, jede weitere Therapie abzulehnen, sei Folge der anerkannten Berufskrankheit gewesen. Durchfälle seien auch kein Zeichen eines Gallengangkarzinoms. Vor dem Hintergrund, dass der Versicherte in den Jahren 2002 bis 2005 sechs Kilogramm an Körpergewicht verloren habe, habe die Gewichtsabnahme im Jahr 2007 auch auf die Berufskrankheit zurückgeführt werden können. Es sei auch nicht bewiesen, dass alle diagnostischen Maßnahmen komplikationslos verlaufen seien. Die Notwendigkeit, ein Sauerstoffgerät zu tragen, habe die Diagnose jedenfalls behindert. Zudem sei nicht bekannt, weshalb der Versicherte die Behandlung abgelehnt habe. Wenn der Versicherte nicht an Silikose gelitten hätte, hätte er der Gewichtsabnahme und dem Durchfall größere Bedeutung zugemessen und sich aller Voraussicht nach fachärztlicher Beratung unterzogen und damit eine Überlebensrate von 54% nach einem Jahr gehabt. Durch die langjährige Krankheit sei der Versicherte therapiemüde geworden. Erst durch das Gutachten von Dr. F. sei geklärt worden, wo der Primärtumor saß und dass es eher kein Bronchialkarzinom gewesen sei. Da der Versicherte ohne Sauerstoffzufuhr mittels Sauerstoffgerät einen tödlichen Sauerstoffmangel erlitten hätte, sei zudem nicht auszuschließen, dass die reduzierte Lungenfunktion zum Tod geführt habe. Die konkrete Todesursache sei mithin nicht bekannt.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Kassel vom 10. September 2010 und des Bescheides vom 31. Juli 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 2008 zu verurteilen, ihr an Stelle der gewährten Beihilfe ab dem 15. April 2007 Witwenrente zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie trägt vor, aus dem Anfertigen einer computertomographischen Aufnahme des Brustkorbes am 6. März 2007 und des Berichtes von Dr. E. hierüber mit dem Ergebnis, dass kein eindeutiger Hinweis für das Vorliegen eines Primärtumors thorakal bestehe, zeige sich gerade, dass an die Differentialdiagnose eines Primärtumors im Bereich der Lunge gedacht worden sei. Dort seien jedoch nicht einmal tumoröse Veränderungen des Lungengewebes nachweisbar gewesen. Es sei zudem nicht nachvollziehbar, dass der Ikterus als typisches Gallenblasenkrebssymptom nicht bereits bei der stationären Aufnahme im Februar 2007 erkennbar gewesen sein soll. Einem Mitarbeiter der Beklagten sei am 27. März 2007 bei dem Versicherten eine wegen des Gallenblasenkrebses gelb verfärbte Haut aufgefallen. Die Schwierigkeit, ein Gallenblasenkarzinom zu diagnostizieren, bestehe zudem ausweislich des Gutachtens von Prof. Dr. Dr. h.c. D. auch bei Patienten, die nicht an einer Berufskrankheit litten. Offensichtlich sei weder Prof. Dr. Dr. h.c. D. noch Dr. F. bekannt gewesen, dass der Versicherte bereits seit zwei Monaten vor der stationären Aufnahme am 20. Februar 2007 einmal täglich massiv dünnflüssigen Stuhlgang gehabt und seit etwa dem 9. Januar 2007 12 Kilogramm abgenommen habe. Die stationäre Aufnahme sei mithin nicht wegen den Folgen der Berufskrankheit, sondern wegen Beschwerden im Magen-Darm-Bereich mit therapieresistentem Durchfall erfolgt. Zudem seien im Rahmen der stationären Behandlung im Februar 2007 alle diagnostischen Maßnahmen komplikationslos durchgeführt worden. Trotz der Folgen der Silikose seien die von Dr. F. angeführten therapeutischen Optionen möglich gewesen, aber offenbar vom Versicherten und seinen Angehörigen abgelehnt worden. Die Folge der Silikose habe damit weder zum massiven Körpergewichtsverlust binnen sechs Wochen beigetragen, noch bestehe eine pulmonale Kachexie.

Der Senat hat am 27. Februar 2012 und am 18. März 2014 einen Erörterungstermin durchgeführt. Wegen des Inhalts wird auf das Sitzungsprotokoll vom 27. Februar 2012 und vom 18. März 2014 Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Beklagtenakte Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht die Klage abgewiesen. Der angegriffene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Denn sie hat einen Anspruch auf Gewährung einer Witwenrente aus § 65 i. V. m. § 63 Abs. 1 und 2 SGB VII.

Gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB VII erhalten Witwen von Versicherten Witwenrente. Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 SGB VII haben Hinterbliebene Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wenn der Tod infolge des Versicherungsfalles eingetreten ist. Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII). Der Tod ist hingegen kein eigener Versicherungsfall, sondern kann lediglich Folge- und Spätschaden eines Versicherungsfalles sein (BSG, Urteil vom 07.02.2006, B 2 U 31/04, juris, Rn. 15). Dem Tod infolge eines Versicherungsfalles steht der Tod von Versicherten gleich, deren Erwerbsfähigkeit durch die Folgen unter anderem der Berufskrankheit Nr. 4101 der Anlage 1 der Berufskrankheitenverordnung um 50 v. H. oder mehr gemindert war (§ 63 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Dies gilt nach § 63 Abs. 2 Satz 2 SGB VII nicht, wenn offenkundig ist, dass der Tod mit der Berufskrankheit nicht in ursächlichem Zusammenhang steht (1. Halbsatz), wobei eine Obduktion zum Zwecke einer solchen Feststellung nicht gefordert werden darf (2. Halbsatz).

Die Klägerin ist Hinterbliebene, nämlich Witwe des Versicherten. Dessen Erwerbsfähigkeit war infolge der Berufskrankheit Nr. 4101 der Anlage 1 der BKV um 60 v. H. gemindert. Dies steht dem Tod infolge eines Versicherungsfalles gleich. Denn es ist nicht offenkundig, dass der Tod des Versicherten mit der Berufskrankheit nicht in ursächlichem Zusammenhang steht.

Für die nach § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB VII erforderliche (haftungsausfüllende) Kausalität zwischen dem Versicherungsfall und dem Tod ("infolge") gilt die Theorie der rechtlich wesentlichen Bedingung (vgl. BSG, Urteil vom 23.10.1975, 2 RU 65/75, juris, Rn. 21; Burchardt, in: P. Becker u. a., SGB VII, § 63 Rn. 10, 38, Stand: Mai 2010; Jentsch, in: jurisPK-SGB VII, § 63 Rn. 18, Stand: 15.03.2014). Eine Berufskrankheit ist mithin nur dann eine Todesursache im Rechtssinne, wenn sie selbst eine wesentliche Bedingung für den Eintritt des Todes darstellt (vgl. Burchardt, in: P. Becker u. a., SGB VII, § 63 Rn. 10, Stand: Mai 2010). Beim Zusammentreffen mit anderen versicherungsfallunabhängigen Leiden ist die Berufskrankheit daher eine rechtlich wesentliche Bedingung, wenn sie den Tod zumindest in nicht unerheblichem Maß – etwa durch Verschlimmerung eines bestehenden Leidens oder durch Schwächung des Körpers – mitverursacht hat, versicherungsfallunabhängigen Faktoren also kein überragendes Gewicht zukommt, oder der Versicherungsfall den Eintritt des Todes um wenigstens ein Jahr beschleunigt hat, auch dadurch, dass das versicherungsfallunabhängige Leiden nicht rechtzeitig behandelt oder diagnostiziert wurde (vgl. Ricke, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, SGB VII, § 63 SGB Rn. 5 f., Stand: 2009; Burchardt, in: P. Becker u. a., SGB VII, § 63 Rn. 13, Stand: Mai 2010).

§ 63 Abs. 2 Satz 1 SGB VII begründet bei bestimmten Berufskrankheiten eine Rechtsvermutung – keine Fiktion, dass das Vorliegen einer der genannten Berufskrankheiten bei der durch die Höhe der MdE von mindestens 50 v. H. indizierten Schwere der Erkrankung in aller Regel zumindest eine rechtlich wesentliche Ursache für den Tod bildet (BSG, Urteil vom 07.02.2006, B 2 U 31/04, juris, Rn. 17). Durch diese Regelung zugunsten der Hinterbliebenen, die ursprünglich aus Gründen der Pietät eingeführt wurde, wird auch der soziale Rechtsfriede gefördert, der durch einen posthumen Streit über die Todesursache gestört wäre (BSG, Urteil vom 07.02.2006, B 2 U 31/04 R, juris, Rn. 21; vgl. Burchardt, in: P. Becker u. a., SGB VII, § 63 Rn. 41, Stand: Januar 2011). Die Vermutung soll eine Entscheidung zugunsten der Hinterbliebenen des Versicherten ermöglichen, wenn die Ursache seines Todes nicht positiv oder negativ festgestellt werden kann (für § 589 Abs. 2 RVO BSG, Urteil vom 04.08.1981, 5a/5 RKnU 2/80, juris, Rn. 20; vgl. auch BSG, Urteil vom 14.03.1968, 5 RKn 92/66, juris, Rn. 22).

Nach § 63 Abs. 2 Satz 2 SGB VII gilt diese Vermutung nicht, wenn offenkundig ist, dass Tod und Berufskrankheit nicht in ursächlichem Zusammenhang stehen. Offenkundigkeit in diesem Sinne liegt nur dann vor, wenn die Berufskrankheit mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit den Tod des Versicherten in medizinischer Sicht nicht erheblich mitverursacht und den Todeseintritt nicht um wenigstens ein Jahr beschleunigt hat (BSG, Urteil vom 07.02.2006, B 2 U 31/04, juris, Rn. 23; Jentsch, in: jurisPK-SGB VII, § 63 Rn. 26, Stand: 15.03.2014), wenn also nur eine weit entfernt liegende und nur theoretische Möglichkeit ohne jeden realen Bezug des Zusammenhangs besteht (BSG, Urteil vom 04.08.1981, 5a/5 RKnU 2/80, juris, Rn. 17; Burchardt, in: P. Becker u. a., SGB VII, § 63 Rn. 47a, Stand: Februar 2010). Die objektive Beweislast für den Fall, dass ein Nachweis für ein offenkundiges Nichtbestehen zwischen einer Berufskrankheit und dem Tod scheitert, trägt der Unfallversicherungsträger (BSG, Urteil vom 30.10.1990, 8 RKnU 2/89, juris, Rn. 16; Burchardt, in: P. Becker u. a., SGB VII, § 63 Rn. 48, Stand: Februar 2012).

Unter Anwendung dieser Maßstäbe ist die Rechtsvermutung des § 63 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nicht widerlegt. Denn es ist nicht offenkundig, dass die Silikose den Tod des Versicherten nicht wesentlich mitverursacht hat.

In medizinischer Hinsicht hat die anerkannte Berufskrankheit Nr. 4101 BKV allerdings mit einer jeden ernsten Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit den Tod des Versicherten nicht erheblich mitverursacht.

Die Fälle, in denen die Vermutung des § 63 Abs. 2 Satz 1 SGB VII widerlegbar ist, sind regelmäßig dadurch gekennzeichnet, dass die Todesursache des Versicherten von einem anderen Organ als dem durch die Berufskrankheit Betroffenen ausgeht (für § 589 Abs. 2 RVO BSG, Urteil vom 29.05.1984, 5a RKnU 2/83, juris, Rn. 13). Um einen solchen Fall handelt es sich auch vorliegend. Die Berufskrankheit Silikose betrifft die Lunge, während die Todesursache von der Galle bzw. der Leber ausging. Ursächlich für den Tod des Versicherten war ausschließlich das Gallengangkarzinom, während ein Bronchialkarzinom nicht angenommen werden kann. Dies ergibt sich aus dem Sachverständigengutachten von Prof. Dr. Dr. h.c. D., der ein Gallengangkarzinom als Todesursache festgestellt und Hinweise für ein Bronchialkarzinom verneint hat. Dem widerspricht auch nicht die Einschätzung des Sachverständigen Dr. F. Dass dieser ein Bronchialkarzinom nicht "mit letzter Sicherheit" ausschließen konnte, bedeutet lediglich, dass es sich hierbei seiner Auffassung nach um eine ganz entfernte Möglichkeit handelt. Eine solche ist jedenfalls offenkundig nicht kausal im naturwissenschaftlichen Sinn. Wenn Dr. F. die Einschätzung von Prof. Dr. Dr. h.c. D., der Tod sei alleinige Folge der Tumorerkrankung, kritisiert und darlegt, dass ohne die Berufserkrankung die Tumorerkrankung früher hätte diagnostiziert werden können, bestätigt er letztlich die Einschätzung, dass der Gallengangtumor die unmittelbare, medizinische Todesursache war. Nicht die geringsten Anhaltspunkte gibt es schließlich dafür, dass die unzureichende Sauerstoffversorgung mitursächlich für den Tod des Versicherten war. Diese Behauptung der Klägerin ist eine bloße Vermutung, die sich nicht auf Tatsachen stützen kann.

Allein der Umstand, dass die Todesursache von einem anderen Organ ausgegangen ist als das von der Berufskrankheit Betroffene, lässt allerdings noch nicht den zwingenden Schluss zu, dass ein Kausalzusammenhang offenkundig nicht besteht (in diesem Sinne auch Schmitt, SGB VII, 4. Aufl. 2009, § 63 Rn. 15; ähnlich Ricke, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, SGB VII, § 63 Rn. 8, Stand: 2009: "idR"; abweichend offenbar LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 30.08.2006, L 9 U 383/03, juris, Rn. 23).

Eine Berufskrankheit hat den Tod des Verletzten nämlich auch dann verursacht, wenn wegen ihr eine Behandlung der davon unabhängigen Erkrankung nicht oder eine an sich erfolgversprechende Behandlung erst zu spät durchgeführt wird oder die Berufskrankheit die rechtzeitige Diagnose einer davon unabhängigen Krankheit verhindert und dadurch den Tod mitverursacht (vgl. für einen Arbeitsunfall BSG, Urteil vom 23.10.1975, 2 RU 65/75, juris, Rn. 22; Urteil vom 28.06.1988, 2/9b RU 28/87, juris, Rn. 15). Die versicherungsfallbedingte Lebensverkürzung um ein Jahr bildet hierbei keine Ausnahme von dem allgemeinen Ursachenbegriff der Unfallversicherung, sondern nur einen besonderen Anwendungsfall der in der Unfallversicherung geltenden Kausallehre (BSG, Urteil vom 27.10.1987, 2 RU 35/87, juris, Rn. 27).

Davon ausgehend ist die Vermutung des § 63 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nicht widerlegt. Denn es ist hinreichend wahrscheinlich, dass der Versicherte ohne seine Silikoseerkrankung erst ein Jahr später an dem Gallengangkarzinom gestorben wäre. Es ist keine bloß weit entfernte Möglichkeit, dass der Versicherte ohne seine Berufskrankheit zu den 54% der an einem Gallengangkarzinom Erkrankten gehört hätte, deren Überlebensquote nach den Ausführungen von Dr. F. mehr als ein Jahr beträgt.

Der Vortrag der Klägerin, der Versicherte sei aufgrund seiner langjährigen Berufskrankheit vorgeschädigt, wesensverändert und therapiemüde, und ohne die Berufskrankheit hätte die Gewichtsreduktion als Symptom des Gallengangkarzinoms erkannt werden können, sodass der Versicherte so rechtzeitig daran operiert hätte werden können, dass sein Leben um mindestens ein Jahr verlängert worden wäre, ist nicht derart weit entfernt liegend, dass dieser Zusammenhang nur als theoretische Möglichkeit ohne jeden realen Bezug anzusehen wäre.

Bereits Prof. Dr. Dr. h.c. D. hat bestätigt, dass die anerkannte Berufskrankheit an der raschen Progredienz der Tumorerkrankung beteiligt war. Zudem ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Symptome des Gallengangkarzinoms durch die Silikose verdeckt wurden. Denn beiden Krankheiten ist ein Gewichtsverlust als Symptom gemein. Ein Ikterus, dem typischen Symptom eines Gallengangkarzinoms, lag bei dem Versicherten zur Zeit der Aufnahme im Krankenhaus noch nicht vor. Davon ist der Senat überzeugt, da andernfalls dieses charakteristische Symptom im Aufnahmebefund erwähnt worden wäre. Dass der Versicherte offenbar zwei Monate vor der Aufnahme im Kreiskrankenhaus einmal täglich massiv dünnflüssigen Stuhlgang gehabt und 12 Kilogramm innerhalb von 6 Wochen abgenommen hat, kann zwar nicht als Symptom einer Silikose angesehen werden. Mit nicht fern liegender Wahrscheinlichkeit wäre allerdings der Gewichtsverlust zuvor nicht ausschließlich der Berufskrankheit zugeschrieben worden, sondern hätte Anlass gegeben, nach einer anderen Ursache hierfür zu suchen. Dr. F. hat hierzu ausgeführt, dass aus seiner Sicht die Gallenwegserkrankung ohne die Berufserkrankung mit Wahrscheinlichkeit früher hätte diagnostiziert werden "müssen". Nicht ausreichend für die Widerlegung der Vermutung ist schließlich die Weigerung des Versicherten, sich an dem Gallengangkarzinom behandeln zu lassen. Zwar wird dann, wenn sich der Versicherte vernunftwidrig einer erfolgversprechenden und erforderlichen Behandlung entzieht, grundsätzlich durch dieses Verhalten die Bedeutung des Unfalles bzw. der Berufskrankheit soweit in den Hintergrund gedrängt, dass das vernunftwidrige und dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnende Verhalten die alleinige Todesursache darstellt (siehe z. B. Ziegler, in: H. Becker u. a., SGB VII, 3. Aufl. 2011, § 63 Rn. 9). Dann wird die Kausalkette zwischen dem Versicherungsfall und dem Tod unterbrochen. Hinsichtlich der Frage der Widersinnigkeit ist allerdings nicht von dem objektiven Maßstab eines menschlichen Normalverhaltens auszugehen (BSG, Urteil vom 29.02.1968, 2 RU 246/64, juris, Rn. 13). Der Kausalverlauf wird nicht unterbrochen, wenn die diesbezügliche Willensbildung wesentlich durch die Folgen des Versicherungsfalles beeinflusst wurde. Hierbei ist abzuwägen, welche Auswirkungen die Berufskrankheit und ihre Folgen gerade auf die in Betracht kommende Einzelpersönlichkeit mit ihrer jeweils gegebenen Struktureigenart im körperlich-seelischen Bereich gehabt haben (für einen Arbeitsunfall BSG, Urteil vom 29.02.1968, 2 RU 246/64, juris, Rn. 13; Sacher, in: Lauterbach, SGB VII, § 63 Rn. 23, Stand: 2002).

Davon ausgehend ist es zumindest nicht fernliegend, dass sich der Versicherte ohne die Belastungen und Auswirkungen seiner anerkannten Berufskrankheit einer Behandlung des Gallengangkarzinoms unterzogen hätte. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat glaubhaft geschildert, dass sich der Versicherte im Rahmen seiner jahrzehntelangen schweren Erkrankung zunehmend verändert und sich die Bereitschaft, ärztlichen Rat zu suchen und sich ärztlicher Behandlung zu unterziehen, stark reduziert hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Nichtzulassung der Revision folgt aus § 160 Abs. 2 SGG.

 

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