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Landessozialgericht Hessen 23.10.2007, L 3 U 24/07

  • Aktenzeichen: L 3 U 24/07
  • Spruchkörper: 3. Senat
  • Instanzenaktenzeichen: S 3 U 41/05
  • Instanzgericht: Sozialgericht Darmstadt
  • Gericht: Hessisches Landessozialgericht
  • Rechtskraft: rechtskräftig
  • Entscheidungstyp: Urteil
  • Entscheidungsdatum: 23.10.2007
  • Normen: SGB VII § 45; SGB VII § 46

Leitsatz: 1:

Die Beendigung der Verletztengeldzahlung nach § 46 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB VII setzt die Benennung einer konkreten zumutbaren Verweisungstätigkeit voraus. Es muss sich insoweit um eine der bisherigen Beschäftigung gleichartige Tätigkeit handeln, die auch als wirtschaftlich gleichwertig angesehen werden kann.

Leitsatz: 2:

Auch ein ungelernter Arbeiter ist im Rahmen von § 46 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB VII nicht breit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Dauer der Gewährung von Verletztengeld.

Der 1948 geborene Kläger lebt seit 1974 in der Bundesrepublik Deutschland. Die deutsche Sprache spricht er nur sehr eingeschränkt. Er hat weder einen Schulabschluss noch hat er einen Beruf erlernt. In seinem Berufsleben hat er im Wesentlichen Helfertätigkeiten bei verschiedenen Baufirmen ausgeübt. Zuletzt war er bei der Fa. M Bau GmbH in W-Stadt als Fahrer mit Ladetätigkeit und Bauarbeiter beschäftigt. Diese Tätigkeit umfasste auch schwere körperliche Arbeiten.

Am 12. März 2004 erlitt der Kläger während dieser bei der Beklagten versicherten Tätigkeit einen Verkehrsunfall. Vor dem Unfall hatte er bei einer Baustoffhandlung in B Stadt Mörtel für eine Baustelle in F-Stadt besorgt. Auf der anschließenden Fahrt mit dem Firmenwagen zu dieser Baustelle verlor er auf der Autobahn A 5 die Kontrolle über das Fahrzeug, als sich von diesem das linke Hinterrad löste, und kam von der Fahrbahn ab. Er zog sich eine dislozierte distale Radius-Mehrfragmentfraktur rechts mit Gelenkflächenbeteiligung und Abriss der Spitze des Processus styloideus ulnae (Griffelfortsatz der Elle) sowie eine Prellung des linken Kniegelenkes mit Schürfwunde zu.

Der Kläger wurde bis zum 26. März 2004 zur Erstversorgung stationär in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik F-Stadt (BGUK) behandelt, anschließend erfolgte eine ambulante Physio- und Ergotherapie. Nachdem am 24. April 2004 der Lohnfortzahlungszeitraum abgelaufen war, zahlte die AOK Hessen dem Kläger im Auftrag der Beklagten aufgrund der mit dieser bestehenden Verwaltungsvereinbarung Verletztengeld aus.

Eine Untersuchung in der BGUK am 28. April 2004 ergab einen Verdacht auf eine drohende Heilentgleisung; eine Röntgenuntersuchung hatte ergeben, dass noch keine ausreichende Heilung eingetreten war bei Verdacht auf eine axiale Sinterung der Fraktur. Auch bei einer weiteren Untersuchung am 12. Mai 2004 konnte noch keine ausreichende knöcherne Heilung festgestellt werden, die drohende Heilentgleisung war jedoch durch die durchgeführte ambulante Therapie weitgehend behoben.

Nachdem die Heilung weiterhin verzögert war und sich eine Sensibilitätsstörung der rechten Hand entwickelt hatte, erfolgte eine weitere stationäre Behandlung in der BGUK vom 23. Juni bis zum 17. Juli 2004, in deren Rahmen durch den Neurologen Dr. FF. ein Karpaltunnelsyndrom ausgeschlossen wurde. Es handele sich um eine distale Läsion des Nervus ulnaris mit möglicher Kompression in der Loge de Guyon, aber auch Mitbeteiligung des oberflächlichen Astes des Nervus ulnaris.

Auch in der Folgezeit wurden von dem Kläger anhaltende massive Ruhe- und Belastungsschmerzen im rechten Handgelenk teils auch mit Ausstrahlung in den rechten Kleinfinger beklagt. Es bestand eine erhebliche Druckschmerzhaftigkeit sowohl über der ellenseitigen Narbe als auch in der rechten Hohlhand; die eigentätige Handgelenksbeweglichkeit war massiv eingeschränkt, das Bewegungsausmaß ließ sich schmerzbedingt aber auch fremdtätig nicht wesentlich verbessern. Auch die Unterarm-Drehbeweglichkeit war erheblich eingeschränkt, der Faustschluss kraftlos und deutlich verzögert. Die Mittelhandmuskulatur war deutlich verschmächtigt ausweislich des Berichts der BGUK vom 19. August 2004. Die behandelnden Ärzte hielten eine weitere Behandlung nicht mehr für medizinisch erfolgversprechend, da der Befund nicht mehr verbesserungsfähig sei (Berichte der BGUK vom 3. und vom 23. September 2004).

Die Durchführung einer Arbeitsbelastungserprobung scheiterte nach Angaben des Arbeitgebers aus organisatorischen Gründen.

Nach entsprechender Anhörung des Klägers mit Schreiben vom 7. September 2004 stellte die Beklagte mit Bescheid vom 1. Oktober 2004 die Zahlung des Verletztengeldes mit Ablauf des 27. September 2004 ein. Zur Begründung führte die Beklagte u.a. aus:

„Wie bereits mit Ihnen am 08.07.2004 in der [BGUK] besprochen, besteht - sofern Arbeitsfähigkeit für die zum Unfallzeitpunkt ausgeübte Tätigkeit als Bauarbeiter/Lkw-Fahrer nicht wieder eintreten wird - Verweisbarkeit auf andere zumutbare Helfertätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Da folglich Arbeitsfähigkeit für die zum Unfallzeitpunkt ausgeübte Tätigkeit nicht mehr eintritt und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht zu erbringen sind, endet das Verletztengeld daher nach § 46 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch - SGB - VII mit dem Tage an dem Sie eine zumutbare, zur Verfügung stehende Tätigkeit wieder aufnehmen können.“

Den hiergegen mit Schreiben vom 5. November 2004 erhobenen und bei der Beklagten am 8. November 2004 eingegangenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. März 2005 zurück. Zur Begründung führte sie aus, der Bescheid vom 1. Oktober 2004 gelte spätestens am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, sodass der Widerspruch spätestens am 4. November 2004 hätte eingehen müssen. Daher sei der Widerspruch unzulässig. Ungeachtet dessen wäre der Widerspruch aber auch nicht begründet, da der Kläger unter Berücksichtigung der Unfallrestfolgen zwar seine bisherige Tätigkeit als Bauarbeiter und Fahrer nicht wieder aufnehmen könne, jedoch in der Lage sei, einfache Helfertätigkeiten vollschichtig auszuüben.

In einem zwischenzeitlich durch den Unfallchirurgen S. erstatteten ersten Rentengutachten vom 14. Dezember 2004 schätzte dieser die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) aufgrund der Unfallfolgen im Bereich des rechten Handgelenks vom 28. September 2004 bis voraussichtlich sechs Monate über den Tag der Untersuchung (13. Oktober 2004) hinaus mit 30 v.H. und danach auf 20 v.H. ein. Die Beklagte holte hierzu eine beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. PB. vom 23. Dezember 2004 ein, der aufgrund der im Rentengutachten erhobenen Befunde eine MdE von 20 v.H. auch nach Ablauf von sechs Monaten nach der gutachterlichen Untersuchung für zu gering erachtete und bis zur Feststellung einer Rente auf unbestimmte Zeit eine unfallbedingte MdE von 25 v.H. vorschlug.

Am 11. April 2005 erhob der Kläger gegen die Entscheidung der Beklagten über die Einstellung des Verletztengeldes Klage bei dem Sozialgericht Darmstadt (SG). Er trug vor, die Voraussetzungen zur Beendigung der Zahlung des Verletztengeldes zum 27. September 2004 hätten nicht vorgelegen. Vielmehr seien nach den Berichten des Unfallchirurgen S. auch nach diesem Stichtag weitere medizinische Therapiemaßnahmen offensichtlich erfolgversprechend gewesen. Die Beklagte vertrat dagegen die Auffassung, das Verletztengeld ende mit dem Tag, an dem die Heilbehandlung soweit abgeschlossen sei, dass der Versicherte eine zumutbare zur Verfügung stehende Berufs- oder Erwerbstätigkeit aufnehmen könne. Der Benennung einer konkreten Tätigkeit bedürfe es im Falle eines ungelernten Arbeiters nicht. Vielmehr könne insoweit Bezug genommen werden auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente.

Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 8. Januar 2007 den Bescheid der Beklagten vom 1. Oktober 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2005 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, an den Kläger über den 27. September 2004 hinaus Verletztengeld zu zahlen. Zur Begründung führte das SG aus, entgegen der Auffassung der Beklagten eigne sich die Rechtsprechung des BSG zum Begriff der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente nicht für die Entscheidung über das Verletztengeld. Im Übrigen zeige doch die aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt mehr als deutlich, dass auch Helfertätigkeiten gerade nicht in ausreichendem Umfang vorhanden seien; ein Zustand, der auch zum Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten Ende 2004 nicht anders gewesen sei. Zudem widerspreche die Rechtsauffassung der Beklagten dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes. Dieses fordere gerade nicht nur eine zumutbare, sondern auch eine zur Verfügung stehende Berufs- oder Erwerbstätigkeit. Demnach reiche zur Einstellung des Verletztengeldes gerade nicht die bloße Feststellung aus, dass mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nicht zu rechnen sei, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht zu erbringen seien und der Versicherte wegen seines Status als Ungelernter auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden könne. Hierdurch werde das Merkmal der Verfügbarkeit nicht belegt. Es sei aber gerade erforderlich, dass dem betroffenen Versicherten eine zumutbare Tätigkeit angeboten werde. Dies entspreche auch der nahezu einhelligen Meinung in der Literatur und stehe zudem im Einklang mit den Empfehlungen des Verwaltungsausschusses Berufshilfe sowie des Verwaltungsausschusses Rechtsfragen des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG). Dem Gericht sei zudem aus zahlreichen anderen Verfahren bekannt, dass die von der Beklagten vorliegend vertretene Rechtsauffassung auch nicht deren eigener Verwaltungspraxis sowie der anderer Berufsgenossenschaften entspreche.

Gegen den ihr am 12. Januar 2007 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 31. Januar 2007 Berufung eingelegt.

Zur Begründung trägt die Beklagte vor, soweit das SG sich in seiner Begründung auf Literaturmeinungen stütze, werde in den entsprechenden Kommentaren keine Begründung dafür gegeben, weshalb die Berufsgenossenschaften im Falle eines an- oder ungelernten Arbeiters eine zumutbare Tätigkeit konkret nachweisen müssten; die Kommentare zitierten sich teilweise gegenseitig oder verwiesen aufeinander oder auf die ebenfalls vom SG in Bezug genommenen Rundschreiben des HVBG, die jedoch nur unverbindliche Auslegungsempfehlungen seien. Dem stehe eine umfangreiche höchstrichterliche Rechtsprechung des BSG zur Frage der Verweisbarkeit Angelernter oder Ungelernter und zur Verpflichtung, eine Verweisungstätigkeit für diesen Personenkreis konkret zu bezeichnen, gegenüber. Hiernach enthebe die selbst für Tarifparteien bestehende Unmöglichkeit, die Fülle der nicht durch Ausbildung und/oder Berufserfahrung qualifizierten Tätigkeiten kurz und charakterisierend zu benennen, die Versicherungsträger und Gerichte von der sonst bestehenden Pflicht, den in Frage stehenden Verweisungsberuf „konkret zu bezeichnen“. Soweit das SG sich auf einen „verschlossenen Arbeitsmarkt“ beziehe, habe es nicht nur seine entsprechende Sachkunde zu dessen Beurteilung nicht dargelegt, sondern sei auch nach der Rechtsprechung des BSG zur Berufs- und Erwerbsunfähigkeit bei noch vollschichtig leistungsfähigen Versicherten grundsätzlich davon auszugehen, dass eine ausreichende Zahl von Erwerbsmöglichkeiten zur Verfügung stehe. Das Risiko des Arbeitsmarktes obliege grundsätzlich nicht der Rentenversicherung, sondern dem Versicherten bzw. der Arbeitslosenversicherung. Ähnliches habe für das Verhältnis der gesetzlichen Unfallversicherung zur Arbeitslosenversicherung im Rahmen der Beendigung des Verletztengeldbezuges zu gelten. Diesbezüglich sei vom Amtsarzt des Gesundheitsamtes der Stadt B-Stadt aufgrund einer Untersuchung vom 10. April 2006 eingeschätzt worden, dass der Kläger vollschichtig einsetzbar sei.

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