Landessozialgericht Hessen 23.05.2014, L 5 R 197/12
- Aktenzeichen: L 5 R 197/12
- Spruchkoerper: 5. Senat
- Instanzenaktenzeichen:S 19 R 158/09
- Instanzgericht: Sozialgericht Gießen
- Gericht: Hessisches Landessozialgericht
- Entscheidungstyp: Urteil
- Entscheidungsdatum: 23.05.2014
Orientierungssatz
- Nach § 48 Abs. 1 SGB 10 ist ein anfänglich rechtmäßiger Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, nachträglich eine wesentliche Änderung eintritt.
- Unterfällt der bisher freiwillig Versicherte der Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung, so endet damit dessen Anspruch auf einen Beitragszuschuss zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung. Dem ursprünglichen Bescheid über die Bewilligung des Beitragszuschusses ist damit nachträglich die Rechtsgrundlage entzogen.
- Die Rechtswidrigkeit der Gewährung des Beitragszuschusses hat der Versicherte zumindest infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt; sofern er Beiträge zur freiwilligen Versicherung nicht mehr zu leisten hat, hätte er unschwer erkennen können, dass ihm kein Beitragszuschuss zu einer freiwilligen Krankenversicherung zustehen kann.
- Der Versicherungsträger hat bei seiner Aufhebungsentscheidung nach § 48 Abs. 1 S. 2 SGB 10 Ermessen auszuüben. Lässt dessen Entscheidung das Ausmaß des gegenüber dem Versicherten zu erhebenden Verschuldensvorwurfs ebenso erkennen wie die Frage eines etwaigen Mitverschuldens des Versicherungsträgers, so ist der Aufhebungsbescheid rechtmäßig ergangen.
Tenor
- Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 2. April 2012 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
- Die Beteiligten haben einander für beide Instanzen keine Kosten zu erstatten.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten (noch) um die rückwirkende Aufhebung der Entscheidung über die Bewilligung eines Beitragszuschusses zu den Aufwendungen für die (freiwillige) Kranken- und Pflegeversicherung sowie um die Rückforderung der insoweit für die Zeit vom 1. April 2002 bis zum 31. Oktober 2008 erbrachten Leistungen in Höhe von insgesamt 7.607,56 €.
Der 1937 geborene Kläger war bei der C.bank beschäftigt und bezieht seit dem 1. Januar 2001 eine Altersrente für langjährig Versicherte. Zu dieser Rente bewilligte die Beklagte ihm auf entsprechenden Antrag durch in der Sache bindend gewordenen Neuberechnungsbescheid vom 26. Februar 2001 für die Zeit ab 1. Januar 2001 einen Beitragszuschuss zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung in gesetzlicher Höhe.
Im Bescheid vom 26. Februar 2001 (Bl. 35 Rentenakten) heißt es unter der Überschrift "Mitteilungspflichten" unter anderem:
"Der Anspruch auf Beitragszuschuss für die freiwillige oder private Krankenversicherung entfällt mit der Aufgabe oder dem Ruhen dieser Krankenversicherung und bei Eintritt von Krankenversicherungspflicht. Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns jede Änderung des Krankenversicherungsverhältnisses unverzüglich mitzuteilen…
Der Anspruch auf Beitragszuschuss für die Pflegeversicherung entfällt bei Eintritt von Versicherungspflicht in der Krankenversicherung sowie bei Eintritt von Beitragsfreiheit in der Pflegeversicherung. Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns jede Änderung des Kranken- und Pflegeversicherungsverhältnisses unverzüglich mitzuteilen.
Soweit Änderungen Einfluss auf den Rentenanspruch oder die Rentenhöhe haben, werden wir den Bescheid – auch rückwirkend – ganz oder teilweise aufheben und zu Unrecht erbrachte Leistungen zurückfordern.
Größere Überzahlungen können vermieden werden, wenn Sie uns entsprechend den Mitteilungspflichten umgehend benachrichtigen."
In der Folge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. März 2000 (1 BvL 16/96 = SozR 3-2500 § 5 Nr. 42 = BVerfGE 102, 68) gelangte der Kläger zum 1. April 2002 als Pflichtversicherter in die gesetzliche Krankenversicherung der Rentner. Ob der Kläger hierüber seinerzeit durch ein Schreiben der Barmer Ersatzkasse (jetzt Barmer GEK) unterrichtet wurde, ist streitig.
Die Beklagte erlangte von der seit dem 1. April 2002 bestehenden Pflichtversicherung des Klägers erstmals Kenntnis aufgrund einer entsprechenden Mitteilung der Barmer Ersatzkasse vom 25. August 2008.
Durch Bescheid vom 5. September 2008 (Bl. 14 Rentenakten) hob die Beklagte daraufhin zunächst unter Berufung auf § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) den "Bescheid über die Bewilligung des Zuschusses zur Krankenversicherung … mit Wirkung für die Zukunft ab 1. November 2008" auf und teilte dem Kläger zugleich mit, dass im Hinblick auf die ab 1. April 2002 bestehende Pflichtversicherung bei der Zahlung der Rente der gesetzliche Eigenanteil zur Kranken- und Pflegeversicherung einzubehalten sei. Bei der rückwirkenden Einbehaltung der Beiträge wurde von Amts wegen die hinsichtlich der Ansprüche für die Zeit bis zum 31. Dezember 2003 eingetretene Verjährung berücksichtigt. Bezüglich der Zeit vom 1. Januar 2004 bis zum 31. Oktober 2008 ermittelte die Beklagte einen Nachforderungsbetrag in Höhe von insgesamt 7.295,23 €. Der gegen diesen Bescheid am 25. September 2008 erhobene Widerspruch des Klägers wurde durch Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 2009 unter Hinweis auf die Einbehaltungsvorschrift des § 255 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) als unbegründet zurückgewiesen. Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht Gießen die betreffenden Bescheide durch rechtskräftig gewordenes Urteil vom 19. April 2011 (Az. S 19 R 398/11) mit der Begründung aufgehoben, dass es an einer Rechtsgrundlage für die in einem Betrag erfolgte Nachforderung der rückständigen Beiträge fehle. Die rückständigen Beiträge sind zwischenzeitlich vom Kläger nachentrichtet worden.
Durch – den hier maßgeblichen – weiteren Bescheid vom 28. November 2008 (Bl. 26 Rentenakten) hob die Beklagte ferner nach entsprechender Anhörung unter Berufung auf § 48 SGB X "den Bescheid vom 26. Februar 2001 über die Bewilligung des Zuschusses zu den Aufwendungen für die Krankenversicherung nach § 106 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) und für die Pflegeversicherung nach § 106a SGB VI" für die Zeit ab 1. April 2002 auf und forderte vom Kläger die Erstattung der hinsichtlich des Zeitraums vom 1. April 2002 bis zum 31. Oktober 2008 entstandenen Überzahlung in Höhe von insgesamt 7.607,56 €. Auf Vertrauen in den Bestand der Bewilligungsentscheidung könne der Kläger sich nicht berufen, weil ein Tatbestand des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 oder Nr. 4 SGB X gegeben sei und die Fristen des § 48 Abs. 4 SGB X noch nicht abgelaufen seien.
Der Kläger erhob am 5. Dezember 2008 auch gegen diesen Bescheid Widerspruch (Bl. 29 Rentenakten) und machte geltend, dass er während seiner Tätigkeit bei der C.bank und auch während des Vorruhestandes freiwillig bei der Barmer Ersatzkasse krankenversichert gewesen sei. Zum Zeitpunkt des Renteneintritts sei er davon ausgegangen, dass diese freiwillige Krankenversicherung weiterbestehe. Ihm sei zu keinem Zeitpunkt mitgeteilt worden, dass nunmehr eine gesetzliche Krankenversicherung bestehe und dass daher der Zuschuss zur Krankenversicherung wegfalle. Dass bei Beendigung der freiwilligen Krankenversicherung die Voraussetzungen für einen Zuschuss entfallen, sei ihm nicht bekannt gewesen. Im Übrigen treffe die Krankenkasse bzw. den Rentenversicherungsträger ein Mitverschulden, welches ihm nicht angelastet werden könne.
Der Widerspruch wurde seitens der Beklagten durch Widerspruchsbescheid vom 1. April 2009 (Bl. 49 Rentenakten) mit der Begründung zurückgewiesen, dass das Vertrauen des Klägers in den Bestand der Bewilligung der Beitragszuschüsse nicht geschützt sei, weil ein Fall des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 4 SGB X vorliege. Der Kläger habe die ihm obliegenden Mitteilungspflichten verletzt und außerdem auch gewusst bzw. wissen müssen, dass der Anspruch auf die Beitragszuschüsse mit Beginn der Versicherungspflicht entfalle. Das Verhalten des Klägers sei vorsätzlich bzw. zumindest grob fahrlässig. Es sei wegen des Mitverschuldens der Krankenkasse an der entstandenen Überzahlung zwar ein sog. atypischer Fall gegeben; gleichwohl könne jedoch im Wege des Ermessens von einer rückwirkenden Aufhebung des Bescheides vom 26. Februar 2001 nicht abgesehen werden, weil das Verschulden des Klägers am Entstehen der Überzahlung deutlich überwiege.
Der Kläger erhob daraufhin am 27. April 2009 Klage bei dem Sozialgericht Gießen und vertiefte seine bereits zur Widerspruchsbegründung gemachten Ausführungen. Er behauptete, sowohl vor als auch nach der Beendigung seiner freiwilligen Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung keine Beiträge direkt an die Barmer Ersatzkasse gezahlt zu haben. Er habe der Barmer Ersatzkasse auch keine entsprechende Einzugsermächtigung erteilt. Anfangs sei der Beitrag an die Krankenkasse von seinem Arbeitgeber abgeführt worden, und nach der Berentung habe es die Barmer Ersatzkasse offenbar versäumt, die freiwilligen Beiträge von ihm einzufordern. Da hinsichtlich der Zeit ab 1. April 2002 keine Abbuchungen des freiwilligen Krankenversicherungsbeitrags weggefallen seien, habe er den Wechsel zur gesetzlichen Krankenversicherung der Rentner nicht bemerken können.
Die Beklagte verteidigte demgegenüber die angefochtenen Bescheide und berief sich unter Vorlage eines entsprechenden Musterschreibens (Bl. 83 Gerichtsakten) darauf, dass die Versicherten regelmäßig schriftlich über die Änderung des Kranken- und Pflegeversicherungsverhältnisses zum 1. April 2002 unterrichtet worden seien.
Das Sozialgericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts schriftliche Auskünfte der Barmer Ersatzkasse vom 30. Juli 2010, vom 30. März 2011, vom 18. Mai 2011 sowie vom 7. Juni 2011 eingeholt und Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung des bei der Barmer Ersatzkasse tätigen Sozialversicherungsangestellten D. als Zeuge. Wegen des Gegenstands sowie wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf die Sitzungsniederschrift vom 2. April 2012.
Durch Urteil vom 2. April 2012 hat das Sozialgericht schließlich die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und zur Begründung ausgeführt, es könne nach den glaubhaften Angaben des Klägers nicht als erwiesen angesehen werden, dass er vom Wechsel seines Krankenversicherungsverhältnisses Kenntnis gehabt habe. Angesichts dessen könne ihm auch ein Verstoß gegen die ihm obliegenden Mitteilungspflichten nicht vorgeworfen werden.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 26. April 2002 zugestellte Urteil des Sozialgerichts am 29. Mai 2012 ("Pfingstdienstag") fristgerecht Berufung eingelegt. Sie macht geltend, dass die Angabe des Klägers, er habe zu keinem Zeitpunkt Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung an die Barmer Ersatzkasse entrichtet, nicht glaubhaft sei. Dem stehe die Aussage des Zeugen D. im Termin vom 2. April 2012 entgegen. Wenn man die Angaben des Klägers als wahr unterstelle, dann ergebe sich daraus im Übrigen, dass er nicht erst ab 1. April 2002, sondern bereits von Beginn an die Beitragszuschüsse zu Unrecht in Empfang genommen habe und deshalb erst recht grob fahrlässig, wenn nicht sogar vorsätzlich gehandelt habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 2. April 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er sieht sich in seiner Auffassung durch die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstands im Übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Rentenakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.