Landessozialgericht Hessen 16.12.2011, L 5 R 32/10

Urteil über einen Klagefall, in dem die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit strittig war.

  • Aktenzeichen: L 5 R 32/10
  • Spruchkörper: 5. Senat
  • Instanzenaktenzeichen: S 6 KN 711/03
  • Instanzgericht: Sozialgericht Gießen
  • Gericht: Hessisches Landessozialgericht
  • Entscheidungstyp: Urteil
  • Entscheidungsdatum: 16.12.2011

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Altersrente wegen Arbeitslosigkeit nach § 237 Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch (SGB VI) mit einem Rentenbeginn ab dem 1. April 2003 ohne Rentenabschlag.

Der 1942 geborene Kläger absolvierte in den Jahren von 1958 bis 1961 eine kaufmännische Lehre und war zunächst vom 1. April 1961 bis 30. September 1964 bei der XY. GmbH B-Stadt als kaufmännischer Angestellter in der Buchhaltung beschäftigt. Ab dem 1. Oktober 1964 arbeitete er bei der Steinkohlebergwerke ZZ. AG, B-Stadt, Schachtanlagen QQ., als kaufmännischer Angestellter und gleichzeitig als Sachbearbeiter in den Wirtschaftsbetrieben (bis 31. Dezember 1965) sowie später als Sachbearbeiter für Angelegenheiten der Wohnheime, Kantinen, Sportheime und Hotelrestaurants (bis 31. Dezember 1966). Vom 1. Januar 1967 bis 30. November 1969 übte der Kläger diese Tätigkeit sodann für die Steinkohlebergwerke ZZ. AG 3/4 aus. Im Anschluss daran war er bei der WW. AG - Altgesellschaft ZZ. (1. Dezember 1969 bis 30. April 1970), bei der EE. Wohnungsbaugesellschaft RR. mbh (1. Mai 1970 bis 30. März 1971) und bei der EE. AG GF. (1. April 1971 bis 30. September 1974) beschäftigt. Danach arbeitete der Kläger ohne jegliche Unterbrechungen für verschiedene Firmen, bevor er am 30. Juni 1997 aus dem Erwerbsleben ausschied. Seitdem war der Kläger durchgängig arbeitslos und arbeitsuchend gemeldet.

Am 31. Dezember 2002 beantragte der Kläger bei der Beklagten Altersrente wegen Arbeitslosigkeit. Dabei bestimmte er, dass seine Rente am 1. April 2003 beginnen sollte. Im Verlauf des Rentenverfahrens teilte er der Beklagten telefonisch mit, eine Altersrente ohne Rentenabschlag zu begehren. Die Gewährung einer Altersrente mit Rentenabschlag mache er nicht geltend.

Mit Bescheid vom 19. Februar 2003 lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers ab, weil die Voraussetzungen für die Vertrauensschutzregelung des § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI nicht vorlägen. Das Ausscheiden aus der Montanindustrie führe nicht automatisch zu einem Vertrauensschutz. Vielmehr müsse die Genehmigung der Maßnahme in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Einführung dieser Vertrauensschutzregelung stehen.

Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 21. Februar 2003 Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. März 2003 zurückwies.

Am 9. April 2003 erhob der Kläger bei dem Sozialgericht Gießen Klage, zu deren Begründung er im Wesentlichen vortrug, im Jahr 1969 bzw. 1974 aus einem Betrieb der Montanunion ausgeschieden zu sein. Die Beklagte lege die Vorschrift des § 237 SGB VI fehlerhaft aus.

Mit Rentenbescheid vom 28. Januar 2004 wurde dem Kläger eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit, beginnend am 1. März 2004, in Höhe von monatlich 1.500,65 EUR als Vorschuss gewährt. Aus der Anlage 6 zu diesem Bescheid geht hervor, dass die Beklagte dabei den Zugangsfaktor von 1,0 wegen vorzeitiger Inanspruchnahme um 38 Kalendermonate um 0,114 (38 x 0,003) auf 0,886 gemindert hat. Mit Bescheid vom 9. Februar 2004 stellte die Beklagte die Rente des Klägers endgültig fest, ohne dass dabei Änderungen gegenüber dem Bescheid vom 28. Januar 2004 eintraten.

Durch Urteil vom 30. November 2004 wies das Sozialgericht die Klage gegen den Bescheid vom 19. Februar 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. März 2003 ab. Dem Kläger stehe die von ihm begehrte Altersrente mit einem Rentenbeginn zum 1. April 2003 ohne Rentenabschlag nicht zu. Er sei zwar unstreitig im Rahmen einer Maßnahme nach Artikel 56 § 2 des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS-V) aus einem Betrieb ausgeschieden und diese Maßnahme sei auch bereits vor dem 14. Februar 1996 genehmigt worden. Gleichwohl könne die Maßnahme nicht zur Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen des § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI dienen, weil ihre Genehmigung nicht in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Einführung dieser Vertrauensschutzregelung stehen würde.

Nachdem ihm das Urteil am 23. Dezember 2004 zugestellt worden war, hat der Kläger am 12. Januar 2005 Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt, mit der er sein Rentenbegehren weiterverfolgt. Er sieht sich durch das zwischenzeitlich ergangene Urteil des Bundessozialgerichts vom 27. August 2009 (Az.: B 13 R 107/08 R) in seiner Rechtsauffassung bestätigt. Die Behauptung der Beklagten, er habe ausschließlich bei Rechtsnachfolgern seines früheren Arbeitgebers gearbeitet, sei unzutreffend. Bei sämtlichen späteren Arbeitgebern habe es sich um eigenständige Gesellschaften gehandelt, die insbesondere in gesellschaftsrechtlicher Hinsicht nicht mit dem stillgelegten Betrieb der Steinkohlebergwerke ZZ. AG, B-Stadt, Schachtanlagen QQ., vermengt werden dürften. Abgesehen davon verliere ein Mitarbeiter, der einmal durch ein vollzogenes Ausscheiden aus einem Betrieb der Montanindustrie in den Schutzbereich der in Rede stehenden Rentenregelung einbezogen worden sei, diesen Schutz nicht mehr. Das gelte selbst dann, wenn er anschließend in einem Auffangbetrieb beschäftigt werde.

Zur Stütze seines Rentenbegehrens legt der Kläger unter anderem eine Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit - Arbeitsamt B-Stadt - vom 20. Februar 2003 vor, wonach eine Maßnahme im Sinne des Artikel 56 § 2 EGKS-V für die Stilllegung des Betriebes Steinkohlebergwerke ZZ. AG, B-Stadt, Schachtanlagen QQ., mit einer Ermächtigung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMA) vom 21. Dezember 1966 vorgelegen hat. Die Maßnahme wurde unter dem Anpassungsfall Nr. xxx geführt. Federführend war seinerzeit das Arbeitsamt B-Stadt. Die Stilllegungsmaßnahme begann ab 1. April 1966.

In dem Erörterungstermin am 20. April 2005 haben beide Beteiligte übereinstimmend erklärt, dass der Vorschussbescheid der Beklagten vom 28. Januar 2004 und der endgültige Bescheid vom 9. Februar 2004 gemäß § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum Gegenstand des Verfahrens geworden sind.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 30. November 2004 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19. Februar 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. März 2003 in der Fassung des Rentenbescheides vom 28. Januar 2004 und des Bescheides vom 9. Februar 2004 zu verurteilen, ihm Altersrente wegen Arbeitslosigkeit beginnend ab dem 1. April 2003 ohne Rentenabschlag zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie wiederholt und vertieft zunächst ihre Auffassung, wonach die Anwendung des § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI voraussetze, dass die Genehmigung der dort beschriebenen Maßnahme in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Einführung der Vertrauensschutzregelung stehen müsse. Auch nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 27. August 2009 (Az.: B 13 R 107/08 R) halte sie daran fest, dass nicht jede Maßnahme nach dem Montanunionvertrag, die vor dem 14. Februar 1996 genehmigt worden sei, zur Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen des § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI führe. Eine erneute Prüfung der Angelegenheit habe ergeben, dass der Kläger durch die von der Bundesanstalt für Arbeit - Arbeitsamt B-Stadt - bescheinigte Maßnahme nicht betroffen gewesen sei. Stattdessen sei er vom 1. Oktober 1964 bis zu seinem Ausscheiden aus betriebsbedingten Gründen zum 30. Juni 1997 bei den Steinkohlebergwerken ZZ. AG und deren Rechtsnachfolgern durchgehend beschäftigt gewesen. Durch Fusion unterschiedlicher Firmen der Montanindustrie habe sich lediglich der Name seines Arbeitgebers geändert. Die Maßnahme sei daher nicht kausal für den Arbeitsplatzverlust des Klägers und sein dadurch bedingtes Ausscheiden gewesen.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Rentenakten der Beklagten, die Gegenstand der Beratung gewesen sind.

Der Senat konnte den vorliegenden Rechtsstreit gemäß §§ 153 Abs. 1 i. V. m. 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.

Die zulässige Berufung (§§ 143, 144, 151 Abs. 1 SGG) ist auch sachlich begründet.

Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts vom 30. November 2004 ist rechtsfehlerhaft ergangen, weil der Ablehnungsbescheid vom 19. Februar 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. März 2003 (§ 95 SGG) in der Fassung des Rentenbescheides vom 28. Januar 2004 und des Bescheides vom 9. Februar 2004, die beide in entsprechender Anwendung des § 96 SGG in der hier einschlägigen Fassung der Bekanntmachung vom 23. September 1975 (BGBl. I, S. 2535) Gegenstand des laufenden Klageverfahrens geworden sind, rechtswidrig ist und den Kläger im Sinne von § 54 Abs. 2 SGG beschwert. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung von Altersrente wegen Arbeitslosigkeit ab dem 1. April 2003 unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0. Denn er gehört zu dem Kreis der Versicherten, die von der Vertrauensschutzregelung des § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI erfasst werden.

Der Kläger erfüllt zum 1. April 2003 die Voraussetzungen für die Gewährung einer Altersrente wegen Arbeitslosigkeit, wie sie sich aus § 237 Abs. 1 SGB VI in der hier einschlägigen Fassung der Bekanntmachung vom 19. Februar 2002 (BGBl. I., S. 754, 3384) ergeben (vgl. § 300 Abs. 1 und 2 SGB VI). Er ist vor dem 1. Januar 1952 geboren (Nr. 1), hat das 60. Lebensjahr vollendet (Nr. 2), ist bei Beginn der Rente arbeitslos gewesen und war nach Vollendung eines Lebensalters von 58 Jahren und sechs Monaten insgesamt 52 Wochen arbeitslos (Nr. 3 lit. a), hat in den letzten zehn Jahren vor Beginn der Rente acht Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit (Nr. 4) und hat schließlich die Wartezeit von 15 Jahren erfüllt (Nr. 5). Dies alles ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten.

Gemäß § 237 Abs. 3 SGB VI i. V. m. Anlage 19 zum SGB VI wird die Altersgrenze von 60 Jahren bei Altersrente wegen Arbeitslosigkeit für nach dem 31. Dezember 1936 geborene Versicherte angehoben, wobei die vorzeitige Inanspruchnahme - allerdings mit Rentenabschlag für jeden Monat des vorzeitigen Bezugs - möglich ist. Nach der Anlage 19 zum SGB VI in der damaligen Fassung wird für Versicherte, die in den Jahren von 1942 bis 1945 geboren sind, die Altersgrenze von 60 Jahren bei Altersrente wegen Arbeitslosigkeit für eine abschlagsfreie Gewährung um 60 Monate auf 65 Jahre angehoben. Die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente führt gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 lit. a SGB VI zu Abzügen dergestalt, dass der Zugangsfaktor von 1,0 für jeden Kalendermonat der vorzeitigen Inanspruchnahme um 0,003 niedriger ist. Für den am 1. Mai 1942 geborenen Kläger wäre daher unter Berücksichtigung der Vorgaben des § 237 Abs. 3 SGB VI i. V. m. Anlage 19 zum SGB VI eine abschlagsfreie Inanspruchnahme der Altersrente erst ab dem 1. Mai 2007 und nicht schon ab dem 1. April 2003 möglich. Stattdessen ergibt sich zu diesem vom Kläger bestimmten Rentenbeginn eine Minderung des Zugangsfaktors von 1,0 wegen vorzeitiger Inanspruchnahme um 49 Kalendermonate um 0,147 (49 x 0,003) auf 0,853. Verfassungsrechtliche Bedenken hiergegen bestehen nicht. Denn die Vorschriften über die Bestimmung von Abschlägen bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente wegen Arbeitslosigkeit (§§ 237 Abs. 3 i. V. m. 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 lit. a SGB VI) sind mit dem Grundgesetz vereinbar (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 11. November 2008, 1 BvL 3/05 u.a. = SozR 4-2600 § 237 Nr. 16).

Dennoch beträgt vorliegend der Zugangsfaktor 1,0 für die ab dem 1. April 2003 zu bewilligende Altersrente wegen Arbeitslosigkeit, weil der Kläger diese Rente nicht vorzeitig in Anspruch genommen hat. Denn zu seinen Gunsten kommt die Übergangsregelung des § 237 Abs. 4 SGB VI zur Anwendung. § 237 Abs. 4 SGB VI sieht für bestimmte Gruppen von "rentennahen" Versicherten, die erstmals von der ab 1. Januar 1997 wirksam gewordenen vorgezogenen und beschleunigten Anhebung der Altersgrenzen durch das Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand (RuStFöG) vom 23. Juli 1996 (BGBl. I, S. 1078) und das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) vom 25. September 1996 (BGBl. I, S. 1461) betroffen waren, bei der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit aus Gründen des Vertrauensschutzes eine gegenüber § 237 Abs. 3 SGB VI abgemilderte Anhebung der Altersgrenze vor.

Nach § 237 Abs. 4 Satz 1 SGB VI wird die Altersgrenze von 60 Jahren bei der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit (oder nach Altersteilzeitarbeit) für diejenigen Versicherten nach Maßgabe der angefügten Tabelle - und folglich abgemildert - angehoben, die

1. bis zum 14. Februar 1941 geboren sind und

a) am 14. Februar 1996 arbeitslos waren oder Anpassungsgeld für entlassene Arbeitnehmer des Bergbaus bezogen haben oder

b) deren Arbeitsverhältnis aufgrund einer Kündigung oder Vereinbarung, die vor dem 14. Februar 1996 erfolgt ist, nach dem 13. Februar 1996 beendet worden ist und die daran anschließend arbeitslos geworden sind oder Anpassungsgeld für entlassene Arbeitnehmer des Bergbaus bezogen haben,

2. bis zum 14. Februar 1944 geboren sind und aufgrund einer Maßnahme nach Artikel 56 § 2 Buchstabe b des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS-V), die vor dem 14. Februar 1996 genehmigt worden ist, aus einem Betrieb der Montanindustrie ausgeschieden sind oder

3. vor dem 1. Januar 1942 geboren sind und 45 Jahre mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben, wobei § 55 Abs. 2 nicht für Zeiten anzuwenden ist, in denen Versicherte wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe versicherungspflichtig waren.

Dabei ist nach der Tabelle des § 237 Abs. 4 Satz 1 SGB VI für Versicherte, die wie der Kläger 1942 geboren sind, eine Anhebung der Altersgrenze von 60 Jahren um - nur - fünf Monate vorgesehen.

Mit Blick auf sein Geburtsdatum am xx. xxx 1942 und die insoweit von § 237 Abs. 4 Satz 1 SGB VI vorgegebenen Stichtage kann für den Kläger von vornherein nur die Vertrauensschutzregelung des § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI in Betracht kommen.

Die Voraussetzungen des § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI liegen bei dem Kläger vor. Aus seinem Geburtsmonat und Geburtsjahr ergibt sich bei Anwendung dieser Vertrauensschutzregelung ein Zugangsfaktor von 1,0, weil der Kläger das 60. Lebensjahr im Mai 2002 vollendet und zudem bestimmt hatte, dass seine Altersrente am 1. April 2003 und damit elf Monate nach Vollendung seines 60. Lebensjahres beginnen sollte. Im Falle des Klägers führt die gesetzliche Anhebung der Altersrente um fünf Monate mithin nicht zu einer Verringerung des Zugangsfaktors.

Zur Überzeugung des Senats ist der Kläger auch aufgrund einer Maßnahme nach Artikel 56 § 2 Buchstabe b EGKS-V, die vor dem 14. Februar 1996 genehmigt worden ist, aus einem Betrieb der Montanindustrie ausgeschieden im Sinne des § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI.

Der Rentenversicherungsträger muss bei § 237 Abs. 4 Satz 1 SGB VI lediglich prüfen, ob von dem früheren Arbeitgeber des Versicherten im Bereich der Montanindustrie eine Maßnahme (im Sinne einer endgültigen Betriebseinstellung, -einschränkung oder -änderung infolge grundlegender Änderungen in den Absatzbedingungen) durchgeführt worden ist, für deren Durchführung EGKS-Beihilfen vor dem Stichtag "14. Februar 1996" vom BMA (im Einvernehmen mit dem BMWi und dem BMF) "genehmigt" worden sind und ob der bis zum 14. Februar 1944 geborene Versicherte aufgrund dieser insoweit genehmigten Maßnahme aus dem Montanbetrieb ausgeschieden ist (vgl. BSG, Urteil vom 27. August 2009, B 13 R 107/08 R, juris Rn. 61). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, wird der Versicherte von § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI erfasst und genießt Vertrauensschutz nach Maßgabe dieser Vorschrift. Einer weitergehenden Prüfung durch den Rentenversicherungsträger bedarf es nicht.

Der Kläger ist aus einem Betrieb der Montanindustrie ausgeschieden. Bei der Steinkohlebergwerke ZZ. AG, B-Stadt, Schachtanlagen QQ., handelte es sich - unstreitig - um einen Betrieb der Montanindustrie. Aus diesem Betrieb ist der Kläger mit Wirkung zum 31. Dezember 1966 ausgeschieden. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Steinkohlebergwerke ZZ. AG, B-Stadt, Schachtanlagen QQ., ihre Betriebstätigkeit zu diesem Datum eingestellt hatte und deshalb der dortige Arbeitsplatz des Klägers weggefallen war. Dann aber konnte der Kläger seitdem für diesen Betrieb der Montanindustrie denknotwendig nicht mehr tätig sein.

Dass der Kläger - nahtlos - zum 1. Januar 1967 von der Steinkohlebergwerke ZZ. AG 3/4 übernommen wurde und es sich hierbei ebenfalls um einen Betrieb der Montanindustrie handelte, ändert daran nichts. Denn der Kläger wurde ab dem 1. Januar 1967 in einem anderen Betrieb der Montanindustrie als der Steinkohlebergwerke ZZ. AG, B-Stadt, Schachtanlagen QQ., beschäftigt. Das beruht darauf, dass der Betrieb der Steinkohlebergwerke ZZ. AG, B-Stadt, Schachtanlagen QQ., zum 31. Dezember 1966 nicht nur eingeschränkt oder geändert, sondern endgültig und vollständig eingestellt wurde. Ist damit dieser Betrieb der Montanindustrie nicht länger fortgeführt worden, muss es sich bei der Steinkohlebergwerke ZZ. AG 3/4, welcher der Kläger ab dem 1. Januar 1967 zugewiesen war, zwangsläufig um einen anderen Betrieb der Montanindustrie gehandelt haben. Das zeigt sich im Übrigen auch daran, dass dieser Betrieb der Montanindustrie in den Jahren 1969/1974 ebenfalls stillgelegt wurde. Ein bereits stillgelegter Betrieb der Montanindustrie wie hier die Steinkohlebergwerke ZZ. AG, B-Stadt, Schachtanlagen QQ., kann aber nicht nochmals einer Maßnahme im Sinne des Artikel 56 § 2 EGKS-V unterzogen werden.

Dass der Kläger nach dem 31. Dezember 1966 weiterhin berufstätig war, ist vorliegend ohne Bedeutung. Der Gesetzgeber hat den über § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI verliehenen Vertrauensschutz lediglich davon abhängig gemacht, dass der Versicherte seinen Arbeitsplatz aufgrund einer Maßnahme verloren hat, für die sein Arbeitgeber eine Beihilfe erhalten hat und die er genehmigen lassen musste. § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI stellt seinem ausdrücklichen Wortlaut zufolge nur darauf ab, dass der Versicherte aus einem Betrieb der Montanindustrie "ausgeschieden" ist. Daraus folgt, dass es im Zusammenhang mit dieser Vertrauensschutzregelung auf den weiteren, sich anschließenden beruflichen Werdegang des Versicherten gerade nicht ankommen kann. Infolgedessen ist es unbeachtlich, wenn der Versicherte im Anschluss an sein Ausscheiden aus einem Betrieb der Montanindustrie - unmittelbar - ein neues Arbeitsverhältnis eingeht. Denn der Gesetzgeber hat mit der Schaffung dieser Vertrauensschutzregelung in typisierender Weise Rücksicht darauf genommen, dass ehemals in der Montanindustrie beschäftigten Versicherten wegen der erheblichen Umstrukturierung in der Montanindustrie in besonderer Weise benachteiligt waren, weil sie nach ihrem Ausscheiden kaum eine Möglichkeit mehr hatten, nochmals in ein bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze dauerndes Arbeitsverhältnisses in ihrem angestammten Bereich der Kohle-, Eisen- oder Stahlindustrie zu gelangen (vgl. BSG, a.a.O., juris Rn. 60). Dass dies im Einzelfall anders sein mag, rechtfertigt keine andere Sicht der Dinge, sondern ist einer typisierenden Betrachtungsweise, wie sie der Gesetzgeber der Vertrauensschutzregelung des § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI zugrunde gelegt hat, geradezu immanent.

Dieses Ergebnis wird im Übrigen auch durch die Vorschrift des § 237 Abs. 4 Satz 3 SGB VI gestützt, wonach ein bestehender Vertrauensschutz insbesondere durch die spätere Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses oder den Eintritt in eine neue arbeitsmarktpolitische Maßnahme nicht berührt wird. Daraus folgt, dass ein einmal bestehender Vertrauensschutz nicht wieder verloren geht (vgl. Wingerter, in: LPK-SGB VI, 2. Aufl. 2010, § 237 Rn. 34). Deshalb ist es auch ohne Belang, wann sich letztlich das Risiko des Versicherten realisiert, nach seinem Ausscheiden aus einem Betrieb der Montanindustrie kein bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze dauerndes Arbeitsverhältnis mehr eingehen zu können.

Darüber hinaus ist der Kläger aufgrund einer vor dem 14. Februar 1996 genehmigten Maßnahme nach Artikel 56 § 2 Buchstabe b EGKS-V aus einem Betrieb ausgeschieden. Dass es sich bei der Stilllegung der Steinkohlenbergwerke ZZ. AG, B-Stadt, Schachtanlagen QQ., um eine vor dem 14. Februar 1996 genehmigte Maßnahme im Sinne des § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI handelte, ergibt sich aus der vom Kläger vorgelegten Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit - Arbeitsamt B-Stadt - vom 20. März 2003. Hiermit wird eindeutig bestätigt, dass bezüglich der Steinkohlenbergwerke ZZ. AG, B-Stadt, Schachtanlagen QQ., eine "Stilllegungsmaßnahme" erfolgte und die hierzu erforderliche Genehmigung des BMA vorlag. Dass diese Genehmigung vom 21. Dezember 1966 datierte, während mit der Stilllegungsmaßnahme bereits am 1. April 1966 begonnen worden war, ist insoweit ohne Belang. Denn eine bestimmte zeitliche Abfolge (etwa: Genehmigung - Maßnahme - Ausscheiden) verlangt § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI nicht (vgl. BSG, a.a.O., juris Rn. 49).

Die zwischen den Beteiligten umstrittene Frage, ob der Kläger aufgrund der Stilllegungsmaßnahme aus dem Betrieb der Steinkohlenbergwerke ZZ. AG, B-Stadt, Schachtanlagen QQ., ausgeschieden ist, ist im Sinne des Klägers zu entscheiden. Aus dem Merkmal "aufgrund" ergibt sich, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Maßnahme (im Sinne einer endgültigen Einstellung, Einschränkung oder Änderung der Betriebstätigkeit) einerseits und dem Ausscheiden des Versicherten aus dem Montanbetrieb andererseits bestanden hat. Die Maßnahme muss also kausal für den Arbeitsplatzverlust des Versicherten und sein dadurch bedingtes Ausscheiden gewesen sein. Hierdurch soll vermieden werden, dass nicht jedes Ausscheiden aus einem Betrieb der Montanindustrie zur Anwendung der Vertrauensschutzregelung führt. Voraussetzung ist vielmehr das Ausscheiden im Rahmen der genannten Maßnahme (vgl. KomGRV, 74. Erg.-Lfg. 2011, § 237 SGB VI Rn. 24). Die erforderliche Kausalität zwischen Maßnahme und Ausscheiden ist daher nur dann gegeben, wenn ausgeschlossen werden kann, dass der Versicherte seinen Arbeitsplatz aufgrund anderer Ursachen aufgeben musste, beispielsweise aus personenbedingten Gründen. Anhaltspunkte für das Vorliegen derartiger - maßnahmeunabhängiger - Gründe sind für den Senat jedoch nicht ersichtlich. Vielmehr ergibt sich aus den vom Kläger vorgelegten Unterlagen eindeutig, dass er im Rahmen des Anpassungsfalles Nr. xxx - also der Stilllegung der Steinkohlebergwerke ZZ. AG, B-Stadt, Schachtanlagen QQ. - zum 1. Januar 1967 in den Wirtschaftsbetrieb ZZ. 3/4 übernommen wurde (Bl. 171 der Gerichtsakte). Daher ist die für § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI notwendige Kausalität ohne Weiteres zu bejahen.

Auch die Beklagte hat keine Umstände aufgezeigt, die geeignet sein könnten, die Kausalität zwischen Maßnahme und Ausscheiden ernsthaft in Frage zu stellen. Soweit sie einwendet, der Kläger sei von der Stilllegungsmaßnahme nicht betroffen gewesen, weil er vom 1. Oktober 1964 bis zum Ausscheiden aus betriebsbedingten Gründen zum 30. Juni 1997 bei den Steinkohlebergwerken ZZ. AG und deren Rechtsnachfolgern durchgehend beschäftigt war, kann dem nicht gefolgt werden. Denn dieser Einwand betrifft nicht die Kausalität zwischen Maßnahme und Ausscheiden, sondern stellt letztlich in Frage, ob der Kläger tatsächlich aus einem Betrieb der Montanindustrie ausgeschieden ist. Eben daran bestehen vorliegend jedoch keinerlei Zweifel, weil sich das Ausscheiden aus einem Montanbetrieb - wie oben bereits ausgeführt - losgelöst von dem weiteren beruflichen Werdegang des Versicherten beurteilt.

Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass der Zeitpunkt des Ausscheidens des Versicherten aus dem Betrieb der Montanindustrie im Rahmen der Vertrauensschutzregelung des § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI unerheblich ist. Dies hat das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 27. August 2009 (Az.: B 13 R 107/08 R, juris Rn. 50) entscheiden, so dass es insoweit keiner weiteren Ausführungen mehr bedarf. Auch die Beklagte hält offenkundig nicht mehr an ihrer anfänglich vertretenen Rechtsauffassung fest, wonach die Genehmigung der in § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI beschriebenen Maßnahme in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Einführung dieser Vertrauensschutzregelung stehen müsse.

Nach alledem konnte die Berufung des Klägers nicht ohne Erfolg bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war gemäß § 160 Abs. 2 SGG nicht zuzulassen.

 

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