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Landessozialgericht Hessen 17.12.2010, L 5 R 272/09

  • Aktenzeichen: L 5 R 272/09
  • Spruchkörper: 5. Senat
  • Instanzenaktenzeichen: S 6 KN 96/07
  • Instanzgericht: Sozialgericht Gießen
  • Gericht: Hessisches Landessozialgericht
  • Entscheidungstyp: Urteil
  • Entscheidungsdatum: 17.12.2010

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte bei der Berechnung der ab dem 1. September 2006 dem Kläger bewilligten Altersrente für schwerbehinderte Menschen das tatsächliche im Zeitraum vom 1. Januar 2006 bis 31. August 2006 erzielte Arbeitsentgelt in Höhe von 37.007,00 EUR oder nur das vom Arbeitgeber vorausbescheinigte Arbeitsentgelt in Höhe von 32.294,00 EUR zugrunde zu legen hat.

Der 1946 geborene Kläger beantragte am 13. Juli 2006 Altersrente wegen Vollendung des 60. Lebensjahres für schwerbehinderte Menschen. Die Antragsvordrucke – die im sog. Online-Verfahren ausgefüllt wurden – enthalten eine Erklärung des Antragstellers (Bl. 16 VA) mit folgendem Wortlaut:

"Ich willige ein, dass der Rentenversicherungsträger zur Beschleunigung des Rentenverfahrens die bis zum Ende des Vormonats des Rentenbeginns maßgeblichen beitragspflichtigen Einnahmen im Voraus von der zahlenden Stelle (Arbeitgeber, Agentur für Arbeit bzw. kommunaler Träger, Krankenkasse, Pflegekasse) anfordert und der Rentenberechnung zugrunde legt. Sollten die tatsächlichen beitragspflichtigen Einnahmen von dem vorausbescheinigten Betrag abweichen, können diese erst bei einer später zu zahlenden Rente berücksichtigt werden."

Dieser Vordruck datiert vom 13. Juli 2006, er ist vom Antragsteller unterschrieben. Am 20. Juli 2006 ging bei der Beklagten ein vom bisherigen Arbeitgeber des Klägers ausgefülltes Formular "Entgeltbescheinigung/Entgeltvorausbescheinigung" vom 17. Juli 2006 ein, wonach der Kläger in der Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 2006 ein Arbeitsentgelt in Höhe von 24.224,00 EUR erzielt habe und – voraussichtlich – für die Zeit vom 1. Juli bis 31. August 2006 in Höhe von 8.070,00 EUR noch erzielen werde, insgesamt somit von 32.294,00 EUR. Unter Berücksichtigung dieses Arbeitsentgeltes bewilligte die Beklagte dem Kläger mit in der Sache bindend gewordenem Bescheid vom 28. Juli 2006 ab dem 1. September 2006 Altersrente für schwerbehinderte Menschen.

Nach dem Vorbringen des Klägers wandte er sich – nach Prüfung seiner später erhaltenen Arbeitspapiere – am 31. Januar 2007 telefonisch an die Beklagte, um eine Berechnung seiner Rente auf der Grundlage seines tatsächlich erzielten höheren Arbeitsentgeltes zu erreichen. Mit Schreiben vom 29. Januar 2007 bat die Beklagte den früheren Arbeitgeber des Klägers um Mitteilung, ob die Entgeltvorausbescheinigung vor Rentenerteilung richtig gewesen sei, da entgegen dem bescheinigten Entgelt in Höhe von 32.294,00 EUR nunmehr im Versicherungskonto des Klägers Arbeitsentgelte in Höhe von 37.007,00 EUR gespeichert seien. Mit Schreiben vom 1. Februar 2007 teilte der frühere Arbeitgeber des Klägers der Beklagten mit, das von ihm am 30. September 2006 der Beklagten gemeldete Entgelt stimme mit der am 17. Juli 2006 ausgefüllten Entgeltbescheinigung nicht überein, da der Kläger sich den nicht in Anspruch genommenen Urlaub sowie einige Überstunden habe nachträglich auszahlen lassen, was bei Erstellung der Bescheinigung am 17. Juli 2006 noch nicht vorauszusehen gewesen sei. Unter Heranziehung ihrer Arbeitsanweisungen erteilte die Beklagte dem Kläger daraufhin am 7. Februar 2007 einen Bescheid, mit dem sie die Neufeststellung seiner Altersrente unter Berufung auf § 70 Abs. 4 Sozialgesetzbuch –Sechstes Buch– (SGB VI) ablehnte, da die vom Arbeitgeber vorausbescheinigten Arbeitsentgelte, somit das geringere Arbeitsentgelt, maßgebend blieben. Hiermit habe sich der Kläger auch bei Rentenantragstellung einverstanden erklärt. Den Widerspruch des Klägers vom 13. März 2007 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. Juni 2007 als unbegründet zurück; zur Begründung führte sie aus, der frühere Arbeitgeber des Klägers habe für den Zeitraum vom 1. Januar 2006 bis 31. August 2006 ein Arbeitsentgelt in Höhe von 32.294,00 EUR vorausbescheinigt. Das tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt für diesen Zeitraum von 37.007,00 EUR sei bei der Rentenberechnung daher nicht mehr anzurechnen, da gemäß § 194 Abs. 1 SGB VI i.V.m. § 70 Abs. 4 SGB VI das vorausbescheinigte Arbeitsentgelt für die Berechnung der Rente entscheidend sei. Weiche die tatsächlich erzielte beitragspflichtige Einnahme von der vorausbescheinigten Einnahme ab, bleibe sie für diese Rente außer Betracht (§ 70 Abs. 4 SGB VI). Einzige Ausnahme für die Berücksichtigung der tatsächlichen Arbeitsentgelte sei, wenn sich im Nachhinein herausstelle, dass die Entgeltvorausbescheinigung falsch gewesen sei. Hierbei sei auf den Tag der Ausstellung abzustellen. Die vom früheren Arbeitgeber ausgestellte Entgeltvorausbescheinigung sei jedoch richtig, da sie von den am Tag ihrer Ausstellung vorhandenen Erkenntnisquellen hinsichtlich des voraussichtlichen Arbeitsentgeltes des Klägers zutreffend ausgegangen sei. Der Arbeitgeber habe mitgeteilt, er habe bei Erstellung der Vorausbescheinigung nicht voraussehen können, dass Urlaubsabgeltungsansprüche und Überstundenvergütungsansprüche zugunsten des Klägers hinzutreten würden.

Gegen den Bescheid der Beklagten vom 7. Februar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juni 2007, abgesandt von der Beklagten am 18. Juni 2007, erhob der Kläger am 17. Juli 2007 Klage zum Sozialgericht Gießen. Er legte den mit seinem früheren Arbeitgeber geschlossenen Aufhebungsvertrag vom 10. Juli 2006 vor, wonach er verpflichtet gewesen sei, ab dem 1. September 2006 Altersrente zu beantragen. Nach Ziffer 3 dieses Aufhebungsvertrages sollten noch ausstehende Urlaubsansprüche bis zum 31. August 2007 realisiert werden. Hierunter sei auch ggf. eine finanzielle Abgeltung zu verstehen gewesen. Dies sei ihm mündlich bei Vertragsunterzeichnung vom früheren Arbeitgeber zugesichert worden. Diese Ansprüche fänden sich jedoch in der Entgeltvorausbescheinigung vom 17. Juli 2006 nicht wieder, so dass diese Bescheinigung von Anfang an falsch gewesen sei. Darüber hinaus sei er über mögliche Nachteile im Verfahren bei Berücksichtigung von Entgelten nach einer Entgeltvorausbescheinigung nicht aufgeklärt worden. Ein Einverständnis mit der Zugrundelegung niedrigeren als des tatsächlich erzielten Arbeitsentgeltes liege nicht vor. Im Übrigen beziehe er sich auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes im Urteil vom 16. November 1995 (Az.: 4 RA 48/93), wonach das tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt ohne Rücksicht auf eine Vorausbescheinigung der Rentenberechnung zugrunde zu legen sei. Die Beklagte trat dem Vortrag des Klägers entgegen, da sich aus dem Aufhebungsvertrag des Arbeitgebers vom 17. Juli 2006 nicht ergebe, dass Urlaubsansprüche – bei Nichtrealisierung – finanziell ausgeglichen werden sollte. Im Übrigen sei nach Ziffer 9 des Aufhebungsvertrages ausgeschlossen worden, dass weitere mündliche Nebenabreden getroffen worden seien. Ferner sei der Kläger auch auf die Voraussetzungen für die Anrechnung von Entgelten aufgrund einer Entgeltvorausbescheinigung im Formblatt hingewiesen und damit ausreichend aufgeklärt worden. Sie sei an die Vorschriften des § 194 Abs. 1, § 70 Abs. 4 SGB VI gebunden, gegen die keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestünden, so dass bei der Berechnung der Rente Entgeltpunkte lediglich für das vorausbescheinigte Arbeitsentgelt zugrunde zu legen gewesen seien.

Mit Urteil vom 30. Juni 2009 hat das Sozialgericht Gießen die Klage als unbegründet abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, aus dem Wortlaut des § 70 Abs. 4 Satz 2 SGB VI ergebe sich eindeutig, dass tatsächlich erzielte beitragspflichtige Einnahmen, sofern sie von den vom Rentenversicherungsträger errechneten voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahmen abwichen, für die Rentenberechnung außer Betracht blieben. Das Gericht schließe sich der Auslegung des Bundessozialgerichtes im Urteil vom 16. November 1995 (Az.: 4 RA 48/93) nicht an. Darüber hinaus seien die Regelungen nicht verfassungswidrig, da dem Kläger das Verfahren der Entgeltvorausbescheinigung nach § 70 Abs. 4 SGB VI zum einen freigestanden habe, und zum anderen die möglichen Nachteile dieses Verfahrens im angemessenen Verhältnis zum legitimen Zweck der Verfahrensbeschleunigung stünde.

Gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 30. Juni 2009, das dem Kläger nach dem ausgestellten Empfangsbekenntnis am 24. Juli 2009 zugegangen ist, hat dieser am 10. September 2009 Berufung eingelegt. Mit Beschluss vom 10. Oktober 2009 hat das Hessische Landessozialgericht dem Kläger Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist gewährt.

Der Kläger wiederholt und vertieft seinen Vortrag aus dem Klageverfahren. Er hält daran fest, dass maßgeblich für die von der Beklagten vorzunehmende Rentenberechnung das tatsächlich von ihm erzielte Arbeitsentgelt sei. Die Vorausbescheinigung sei falsch gewesen, insbesondere, da der Arbeitgeber Urlaubsabgeltungsansprüche und Überstundenentgelte nicht berücksichtigt habe, obwohl sie bereits zum Zeitpunkt der Ausstellung der Entgeltvorausbescheinigung am 17. Juli 2006 erkennbar gewesen seien, was sich u.a. aus dem Aufhebungsvertrag des Klägers ergebe. Im Übrigen habe das Bundessozialgericht in dem bereits zitierten Urteil auch unter Würdigung der verfassungsrechtlichen Kriterien die Auffassung vertreten, dass der Rentenversicherungsträger nicht im Nachhinein gehindert sei, unzutreffende Angaben in einer Entgeltvorausbescheinigung an das tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt anzupassen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 30. Juni 2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 7. Februar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juni 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Altersrentenbescheid vom 28. Juli 2006 und die in der Folge ergangenen Anpassungsbescheide zu ändern und ihm ab dem 1. September 2006 abzüglich der bereits erbrachten Leistungen Altersrente für schwerbehinderte Menschen unter Berücksichtigung des im Zeitraum vom 1. Januar 2006 bis 31. August 2006 tatsächlich erzielten Arbeitsentgeltes in Höhe von 37.007,00 EUR zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält an ihrer Auffassung in den angefochtenen Bescheiden fest. Zutreffend habe das Sozialgericht Gießen die Klage des Klägers abgewiesen, da sie nicht berechtigt sei, im Nachhinein ein höheres Arbeitsentgelt bei der Berechnung der Rente zu berücksichtigen. Soweit das Urteil des Bundessozialgerichtes vom 16. November 1995 betroffen sei (Az.: 4 RA 48/93), werde dieses Urteil von den Rentenversicherungsträgern aufgrund einer gemeinsamen Entschließung nicht angewendet.

Im Übrigen wird gemäß § 136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf den Inhalt der Akten der Beklagten sowie die Klage- und Berufungsakten des Gerichtes verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

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