Landessozialgericht Hessen 06.03.2009, L 5 R 280/06
- Aktenzeichen: L 5 R 280/06
- Spruchkörper: 5. Senat
- Instanzenaktenzeichen: S 2 RJ 2412/0
- Instanzgericht: Sozialgericht Darmstadt
- Gericht: Hessisches Landessozialgericht
- Entscheidungstyp: Urteil
- Entscheidungsdatum: 06.03.2009
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit streitig.
Der 1961 in SL. geborene Kläger verfügt über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Er kam 1994 nach Deutschland und arbeitete hier von 1999 bis 2001 als Reinigungskraft in der POR Filiale am WER. Dort zog er sich am 5. Juli 2001 anlässlich eines Arbeitsunfalls eine Knieverletzung zu. Nachfolgend bezog der Kläger zunächst Krankengeld und dann Arbeitslosengeld in gesetzlicher Höhe.
Am 8. August 2002 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und legte einen Befundbericht des Arztes für Unfallchirurgie Dr. med. QAW. vom 19. August 2002 vor. Auf Veranlassung der Beklagten wurde er daraufhin am 18. September 2002 durch den Arzt für Orthopädie sowie für Physikalische und Rehabilitative Medizin - Chirotherapie, Sportmedizin, Spezielle Schmerztherapie - Dr. med. FF. untersucht.
Im fachorthopädischen Rentengutachten vom 24. September 2002 diagnostizierte Dr. med. FF. bei dem Kläger einen Zustand nach offener Knochen-Knorpel-Transplantation des linken Kniegelenkes, einen Zustand nach Innenmeniskusteilresektion, einen Zustand nach Knorpelglättung, ein chronisches Reizknie links sowie einen Diabetes mellitus. Unter Berücksichtigung dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen mutete er dem Kläger noch leichte körperliche Tätigkeiten mit Einschränkungen (überwiegend im Sitzen, ohne Knien oder dauerhaftes Stehen, ohne häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 10 kg Gewicht, nicht auf Leitern und Gerüsten sowie ohne längere Anmarschwege) vollschichtig bzw. für die Dauer von arbeitstäglich sechs Stunden und mehr zu.
Nach Auswertung dieses Gutachtens lehnte die Beklagte den Rentenantrag durch Bescheid vom 8. Januar 2003 anfangs mit der Begründung ab, dass die gesetzliche Wartezeit nicht erfüllt sei.
Im nachfolgenden Widerspruchsverfahren stellte die Beklagte zunächst durch in der Sache bindend gewordenen Bescheid vom 23. Juli 2003 für die beiden in Deutschland geborenen Kinder zugunsten des Klägers eine Kindererziehungszeit fest, wodurch die gesetzliche Wartezeit erfüllt wurde.
Nach Beiziehung der Unfallakten der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten veranlasste die Beklagte sodann eine nochmalige Begutachtung des Klägers durch den Arzt für Orthopädie sowie für Physikalische und Rehabilitative Medizin - Chirotherapie, Sportmedizin, Spezielle Schmerztherapie - Dr. med. FF ...
Im (zweiten) fachorthopädischen Rentengutachten vom 6. Oktober 2003 diagnostizierte Dr. med. FF. im Anschluss an eine ambulante Untersuchung vom 10. Oktober 2003 bei dem Kläger eine Gonarthrose links bei Zustand nach offener Knochen-Knorpel-Transplantation, Knorpelglättung und Innenmeniskusteilresektion, ein chronisch-rezidivierendes Reizknie, eine teilfixierte Wirbelsäulenfehlstatik sowie einen Diabetes mellitus. Zum Leistungsvermögen führte er wiederum aus, dass der Kläger noch leichte körperliche Tätigkeiten mit Einschränkungen (überwiegend im Sitzen, ohne Knien oder dauerhaftes Stehen, ohne häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 10 kg Gewicht, nicht auf Leitern und Gerüsten sowie ohne längere Anmarschwege) vollschichtig bzw. für die Dauer von arbeitstäglich sechs Stunden und mehr verrichten könne. Die dem Kläger zumutbare Gehstrecke betrage mehr als 600 m; er könne mehr als 30 Minuten kontinuierlich gehen.
Der Widerspruch des Klägers wurde sodann seitens der Beklagten durch Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 2003 mit der Begründung zurückgewiesen, dass der Kläger zumindest noch sechs Stunden arbeitstäglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig sein könne. Eine Erwerbsminderung in rentenberechtigendem Ausmaß liege deshalb nicht vor.
Der Kläger erhob daraufhin am 22. Dezember 2003 Klage bei dem Sozialgericht Darmstadt und machte unter Vorlage von diversen ärztlichen Unterlagen geltend, dass er keine geregelte Erwerbstätigkeit unter den in den Betrieben üblichen Bedingungen mehr verrichten könne. Die Beklagte berief sich demgegenüber auf das Ergebnis der eingeholten Gutachten.
Das Sozialgericht holte zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Befundberichte des Chirurgen Dr. med. QAW. vom 21. Juni 2004, des Internisten Dr. med. G. vom 6. Juni 2004 sowie vom 15. Mai 2005 und des Orthopäden Dr. med. KE. vom 3. August 2005 mit weiteren Krankenunterlagen ein. Außerdem wurde von Amts wegen Beweis erhoben durch Einholung eines fachärztlichen Sachverständigengutachtens bei dem Arzt für Orthopädie - Rheumatologie, Sportmedizin, Chirotherapie, Spezielle Schmerztherapie, Physikalische Therapie - Dr. med. JJ ...
Im fachorthopädischen Sachverständigengutachten vom 2. Februar 2005 diagnostizierte Dr. med. JJ. im Anschluss an eine ambulante Untersuchung vom 26. Januar 2005 bei dem Kläger einen Zustand nach Bizepsmuskelquetschung am linken Oberarm mit geringgradigem Substanzverlust und ohne funktionelle Beeinträchtigungen, eine Druckschmerzangabe über dem Rollhügel der rechten Hüfte bei klinisch und röntgenologisch im Übrigen altersentsprechend unauffälligen lokalen Verhältnissen ohne Nachweis eines funktionellen Defizits, einen Zustand nach Knorpel-Knochen-Transplantation am linken Kniegelenk mit dem Alter geringgradig vorauseilenden Aufbrauchserscheinungen und Knorpelrauhigkeit an der Entnahmestelle im innenseitigen Kniescheibengleitlager bei geringgradigem Muskelminus des gleichseitigen Oberschenkels ohne Bewegungseinschränkung und ohne aktuelle lokale Reizerscheinungen sowie einen Knick-Senk-Spreizfuß beidseits ohne funktionelle Einschränkung. Unter Berücksichtigung dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen mutete Dr. med. JJ. dem Kläger noch leichte körperliche Tätigkeiten mit Einschränkungen (überwiegend im Sitzen, ohne überlange Fußmärsche, ohne häufiges Knien oder Hocken, ohne Besteigen von Treppen und Leitern, nicht auf Leitern und Gerüsten, ohne Absturzgefahr, ohne häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 8 kg Gewicht sowie überwiegend in temperierten, trockenen und geschlossenen Räumen) für die Dauer von arbeitstäglich mehr als sechs Stunden zu. Die Wegefähigkeit des Klägers sei durch die geringgradigen Aufbrauchserscheinungen am linken Kniegelenk lediglich marginal eingeschränkt. Er sei durchaus imstande, viermal täglich Fußwegstrecken von mehr als 500 m Länge in jeweils weniger als 20 Minuten Dauer zurückzulegen. Diese Leistungsbeurteilung bekräftigte der Sachverständige Dr. med. JJ. nochmals in einer vom Sozialgericht eingeholten ergänzenden Stellungnahme vom 13. Dezember 2005.
Gestützt auf diese Ermittlungen hat das Sozialgericht die Klage durch Urteil vom 23. Mai 2006 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass der nach seinem beruflichen Werdegang auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbare Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zumindest noch leichte körperliche Tätigkeiten für die Dauer von arbeitstäglich sechs Stunden und mehr verrichten könne. Es liege deshalb keine Erwerbsminderung in rentenberechtigendem Ausmaß vor.
Der Kläger hat gegen das ihm am 9. August 2006 zugestellte Urteil des Sozialgerichts am 7. September 2006 Berufung eingelegt. Er verfolgt sein Rentenbegehren weiter und macht geltend, dass ihm – insbesondere wegen des bei ihm vorliegenden Analphabetismus – der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei. Der Kläger legt diverse ärztliche Unterlagen vor und vertritt die Auffassung, dass er gesundheitsbedingt keiner geregelten Erwerbstätigkeit mehr nachgehen könne.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 23. Mai 2006 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 8. Januar 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2003 zu verurteilen, ihm für die Zeit ab 1. September 2002 Rente wegen voller Erwerbsminderung,
hilfsweise,
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bzw. Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit, zu gewähren,
hilfsweise,
von der Bundesagentur für Arbeit für die genannten Tätigkeiten als Warensortierer oder Warenaufmacher/Versandfertigmacher seit 2002 die entsprechenden Vermittlungsdaten beizuziehen,
hilfsweise,
für die Behauptung, dass es diese Tätigkeiten im täglichen Arbeitsleben nicht mehr isoliert gibt, und zum Beweis dafür, dass diese Tätigkeiten als Warensortierer, Warenaufmacher und Versandfertigmacher für den Kläger als Analphabet auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, Herrn TRE., leitender Oberarzt und stellvertretender ärztlicher Leiter der POR in der POR-Straße, QE., als sachverständigen Zeugen zu hören.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie sieht sich in ihrer Auffassung durch die erstinstanzliche Entscheidung sowie durch das Ergebnis der im Berufungsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme bestätigt. Die Beklagte legt eine Probeberechnung vor und weist darauf hin, dass die vom Kläger beanspruchte Rente wegen voller Erwerbsminderung bei einem zu erwartenden Rentenzahlbetrag in Höhe von ca. 330,00 EUR netto niedriger sei, als dessen derzeit bezogene Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in Höhe von 750,00 EUR monatlich.
Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen Beweis erhoben durch Einholung eines fachorthopädischen sowie eines fachinternistisch-kardiologischen Sachverständigengutachtens.
Der Arzt für Orthopädie sowie für Physikalische und Rehabilitative Medizin – Rheumatologie - Prof. Dr. med. C. diagnostiziert im Sachverständigengutachten vom 26. September 2007 im Anschluss an eine ambulante Untersuchung vom 17. September 2007 bei dem Kläger ein innenseitiges und an der Kniescheiben-Rückfläche beginnendes Verschleißleiden des linken Kniegelenkes mit Belastungsminderung und funktionell unbedeutender endgradiger Streckhemmung ohne aktuelle Reizerscheinungen, einen Spreizfuß beidseits mit diskreter X-Stellung der Großzehe, einen muskulär vollständig kompensierten Muskelfaserriss am linken Oberarm sowie ein beginnendes Verschleißleiden im Bereich beider Rotatorenmanschetten mit endgradiger Abspreizbehinderung beider Schultergelenke. Er erachtet den Kläger unter Berücksichtigung dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen noch für fähig, leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Tätigkeiten mit Einschränkungen (überwiegend im Sitzen, mit der Möglichkeit des gelegentlichen Wechsels der Körperhaltung) vollschichtig zu verrichten.
Der Arzt für Innere Medizin - Kardiologie - Prof. Dr. med. D. diagnostiziert im Sachverständigengutachten vom 15. Juli 2008 im Anschluss an ambulante Untersuchungen vom 16./17. April 2008 bei dem Kläger einen insulinpflichtigen Diabetes mellitus sowie eine Hyperlipidämie und weist daraufhin, dass von Seiten des Herzens bei dem Kläger allesamt altersentsprechende Normalbefunde erhoben worden seien. Im Hinblick auf die unzureichende Blutzuckereinstellung sei der Kläger nicht mehr dazu in der Lage, schwere Arbeit zu verrichten. Zumindest eine leichte körperliche Tätigkeit könne dem Kläger jedoch aus internistischer Sicht ohne weitere qualitative Leistungseinschränkungen vollschichtig zugemutet werden. Die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens auf einem anderen medizinischen Fachgebiet wird seitens des Sachverständigen Prof. Dr. med. D. ausdrücklich nicht für erforderlich gehalten.
Es ist außerdem im Erörterungstermin vom 30. Januar 2009 eine berufs- und wirtschaftskundliche Auskunft der Bundesagentur für Arbeit - Regionaldirektion Hessen - eingeholt worden. Nach Angaben der Arbeitsverwaltung kommt der Kläger unter Berücksichtigung seines beruflichen Werdegangs und seines eingeschränkten Restleistungsvermögens noch für eine Tätigkeit als Warenaufmacher/Versandfertigmacher oder als Warensortierer in Betracht. Derartige Tätigkeiten stehen nach Angaben der Arbeitsverwaltung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in nennenswertem Umfang zur Verfügung und könnten vom Kläger in einer Einarbeitungs- bzw. Einweisungszeit von längstens drei Monaten Dauer vollwertig verrichtet werden. Es ist ferner eine vom Senat in einer anderen Rentenversicherungsstreitsache (Az. L 5 R 363/07) eingeholte berufs- und wirtschaftskundliche Auskunft der Bundesagentur Arbeit vom 16. Mai 2008 zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstands im Übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Rentenakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.