Landessozialgericht Hessen 29.05.2009, L 5 R 300/07
- Aktenzeichen: L 5 R 300/07
- Spruchkörper: 5. Senat
- Instanzenaktenzeichen: S 7 R 451/05
- Instanzgericht: Sozialgericht Kassel
- Gericht: Hessisches Landessozialgericht
- Entscheidungstyp: Urteil
- Entscheidungsdatum: 29.05.2009
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über das Ende der dem Kläger zu gewährenden Zeitrente wegen voller Erwerbsminderung. Umstritten ist dabei insbesondere, ob der Kläger einen Anspruch auf Gewährung einer sog. Schonrente im Sinne des § 100 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) hat.
Der 1952 in Polen geborene Kläger verfügt nach eigenen Angaben über eine abgeschlossene Ausbildung zum Industriemechaniker und arbeitete in Polen bis zu seiner Übersiedelung nach Deutschland am 19. August 1989 als Industriemechaniker. Die in Polen zurückgelegten Beitragszeiten wurden nach Maßgabe des deutsch-polnischen Rentenabkommens in die bundesdeutsche gesetzliche Rentenversicherung übernommen. In Deutschland war der Kläger zuletzt von 1992 bis 2001 als Maschinenführer an einer Schleifstraße im Betonsteinwerk D. in H. versicherungspflichtig erwerbstätig. Nachfolgend bezog er Krankengeld bzw. Arbeitslosengeld in gesetzlichem Umfang.
Am 17. Januar 2005 stellte der Kläger bei der Beklagten den hier maßgeblichen (zweiten) Antrag auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und legte einen Befundbericht des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. B. vom 20. Dezember 2004 nebst weiteren Krankenunterlagen vor. Auf Veranlassung der Beklagten wurde er daraufhin am 21. März 2005 durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie - Spezielle Schmerztherapie - FC. untersucht. Im Gutachten vom 29. März 2005 diagnostizierte der Arzt für Neurologie und Psychiatrie FC. bei dem Kläger Muskelatrophien, Paresen und Gefühlsstörungen im Innervationsgebiet des rechten Nervus ulnaris nach einem Arbeitsunfall im Jahre 1999 als Dauerschaden ohne Aussicht auf Besserung, ein leichtes Sulcus-ulnaris Syndrom links mit subjektiven Gefühlsstörungen ohne weitere neurologische Störungen, degenerative Veränderungen an der Halswirbelsäule mit Bandscheibenprotrusionen ohne Nervenwurzelbeteiligung, eine belastungsabhängige Lumbalgie ohne Nervenwurzelschädigung sowie eine Kniegelenksarthrose rechts. Unter Berücksichtigung dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen mutete er dem Kläger noch leichte körperliche Tätigkeiten mit Einschränkungen (ohne Über-Kopf-Arbeiten, ohne häufiges Bücken, ohne häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 10 kg Gewicht, ohne volle Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand, ohne Anforderungen an die grobe Kraft und an die Feinmotorik sowie ohne häufiges Beugen und Strecken im linken Ellenbogen) vollschichtig bzw. arbeitstäglich sechs Stunden und mehr zu.
Nach Auswertung dieses Gutachtens lehnte die Beklagte den Rentenantrag durch Bescheid vom 27. April 2005 und Widerspruchsbescheid vom 27. September 2005 mit der Begründung ab, dass der Kläger aus ärztlicher Sicht zumindest noch leichte körperliche Tätigkeiten im zeitlichen Umfang von arbeitstäglich sechs Stunden und mehr verrichten könne. Unter Berücksichtigung seines beruflichen Werdegangs als angelernter Arbeiter im oberen Bereich müsse der Kläger sich zur Verwertung dieses Restleistungsvermögens sozial zumutbar auf eine Tätigkeit als Telefonist, als Büro- oder Verwaltungshilfskraft, als Pförtner, als Parkhauswächter und als Museumswärter verweisen lassen, so dass keine Erwerbsminderung in rentenberechtigendem Ausmaß vorliege.
Der Kläger erhob daraufhin am 6. Oktober 2005 Klage bei dem Sozialgericht Kassel und machte unter Vorlage eines Attestes des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. B. vom 10. Oktober 2005 nebst zahlreichen weiteren Krankenunterlagen geltend, dass die bei ihm – insbesondere auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet – vorliegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen nicht hinreichend gewürdigt worden seien.
Das Sozialgericht holte zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Befundberichte des Internisten Dr. med. E. vom 8. Dezember 2005, des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. B. vom 8. Dezember 20005, der Klinik für Handchirurgie AC. vom 11. Januar 2006 sowie des Orthopäden Dr. med. D. vom 27. Januar 2006 ein und zog die den Kläger betreffenden Schwerbehindertenakten des Versorgungsamts LU. bei.
Nachfolgend wurde von Amts wegen Beweis erhoben durch Einholung eines psychiatrisch-psychosomatischen Sachverständigengutachtens bei dem Arzt für Psychiatrie - Psychotherapie - sowie für Psychosomatische Medizin Dr. med. BO. Im Sachverständigengutachten vom 1. Juni 2006 diagnostizierte Dr. med. BO im Anschluss an eine ambulante Untersuchung vom 22. März 2006 bei dem Kläger eine Anpassungsstörung nach Verletzung des Armes (April 1999) und der Hand (Dezember 2000) mit nachfolgenden Operationen (2002 und 2003) bei Verlust der Arbeit infolge Firmenschließung (2001) sowie Ehekonflikt mit Entwicklung einer chronischen Dystymia, eine Schmerzstörung mit überwiegenden medizinischen Krankheitsfaktoren bei nur geringgradigen psychogenen Überlagerungen ohne Hinweise auf eine bewusstseinsnahe Aggravation, eine zwanghafte-depressive Persönlichkeitsstruktur mit derzeit noch integriertem Strukturniveau, eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung des rechten Handgelenks und Unterarms bei Belastung und Minderung der groben Kraft nach zwei Arbeitsunfällen (Muskelatrophien, Paresen und Gefühlsstörungen im Innervationsgebiet des rechten Nervus ulnaris) als Dauerschaden ohne Aussicht auf Besserung, mittelgradige bewegungs- und belastungsabhängige Schmerzen und Funktionsstörungen der Halswirbelsäule durch ausgeprägte degenerative Veränderungen ohne Nervenwurzelbeteiligung, leichtgradige bewegungs- und belastungsabhängige Schmerzen und Funktionseinschränkungen (Lumbalgien) ohne Nervenwurzelstörung sowie leichtgradige Schmerzen und Funktionsstörungen des rechten Knies. Der Sachverständige wies darauf hin, dass die medikamentösen, ambulanten und stationären-therapeutischen Maßnahmen noch nicht ausgeschöpft seien und empfahl die Durchführung eines psychosomatisch orientierten stationären Heilverfahrens. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger nach erfolgreicher Durchführung solcher Rehabilitationsmaßnahmen wieder in der Lage sei, leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Tätigkeiten mit Einschränkungen (in wechselnder Körperhaltung, ohne Zwangshaltungen sowie ohne besondere Anforderungen an die volle Gebrauchsfähigkeit, insbesondere an die Feinmotorik der rechten Hand) zumindest sechs Stunden arbeitstäglich zu verrichten.
Nach Auswertung dieses Gutachtens gewährte die Beklagte dem Kläger in der Zeit vom 26. September 2006 bis zum 24. Oktober 2006 ein stationäres Heilverfahren in der Klinik R. Im Entlassungsbericht vom 13. November 2006 diagnostizierte die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie sowie für Psychotherapeutische Medizin K. bei dem Kläger eine mittelgradige depressive Episode mit Somatisierungstendenzen, einen Zustand nach Quetschverletzung der rechten Hand und des rechten Handgelenks mit eingeschränkter Funktion des Handgelenks und Ulnarisparese, ein Impingement-Syndrom der linken Schulter mit Funktionseinschränkung des Schultergelenks, eine bekannte beginnende Gonarthrose rechts sowie eine beginnende Coxarthrose rechts im Stadium I bis II nach Mathies und Bach. Der Kläger wurde als arbeitsunfähig aus dem Heilverfahren entlassen. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wurden ihm noch leichte körperliche Tätigkeiten mit Einschränkungen (ohne besondere Anforderungen an die Kraft und Funktion der rechten Hand und des linken Schultergelenks sowie ohne Zeitdruck) vollschichtig bzw. arbeitstäglich sechs Stunden und mehr zugemutet.
In einer vom Sozialgericht eingeholten ergänzenden Stellungnahme vom 15. Januar 2007 vertrat der Sachverständige Dr. med. BO nach Auswertung des Entlassungsberichts der Klinik R. vom 13. November 2006 die Auffassung, dass die von ihm zuvor diagnostizierte Gesundheitsstörung des Klägers hinreichend gebessert und dass eine Leistungsminderung auch aus seiner Sicht nicht mehr erkennbar sei.
Die Beklagte erklärte sich daraufhin mit Schriftsatz vom 7. Februar 2007 vergleichsweise bereit, für die Zeit vom 22. März 2006 bis zum 24. Oktober 2006 das Vorliegen einer vollen Erwerbsminderung anzuerkennen und dem Kläger für die Zeit vom 1. Oktober 2006 bis zum 31. Oktober 2006 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit zu gewähren. Dieses Vergleichsangebot wurde seitens des Klägers nicht angenommen.
Durch Urteil vom 28. Juni 2007 hat das Sozialgericht die Beklagte sodann unter Abweisung der weitergehenden Klage verpflichtet, "dem Kläger für die Zeit vom 1. Oktober 2006 bis 31. Januar 2007 befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren." Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, dass nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bezüglich der Zeit vom 11. März 2006 bis zum 24. Oktober 2006 bei dem Kläger von einem aufgehobenen Leistungsvermögen auszugehen sei. Es bestehe deshalb nach Maßgabe des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI ein Anspruch auf Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit.
Hinsichtlich des Rentenbeginns sei die Beklagte im Rahmen ihres Vergleichsangebots vom 7. Februar 2007 zu Recht davon ausgegangen, dass befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit der Vorschrift des § 101 Abs. 1 SGB VI zufolge nicht vor Beginn des 7. Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet werden. Ausgehend von einem Eintritt des Leistungsfalls im März 2006 ergebe sich damit ein Rentenbeginn zum 1. Oktober 2006.
Die dem Kläger zu gewährende Rente ende jedoch – abweichend vom Vergleichsangebot der Beklagten vom 7. Februar 2007 – nicht bereits mit dem 30. Oktober 2006, sondern erst mit dem 31. Januar 2007. Dies ergebe sich aus § 100 Abs. 3 Satz 2 SGB VI, wonach die Rentenzahlung erst mit Beginn des 4. Kalendermonats nach der Besserung der Erwerbsfähigkeit endet, sofern ein Anspruch auf Rente deswegen entfällt, weil sich die Erwerbsfähigkeit des Berechtigten nach einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben gebessert hat (sog. Schonrente).
Zum Zeitpunkt der Vorlage des bei Dr. med. BO eingeholten Sachverständigengutachtens vom 1. Juni 2006 habe – auch zur Überzeugung der Beklagten – festgestanden, dass bei dem Kläger ab dem Zeitpunkt der gutachtlichen Untersuchung vom 22. März 2006 – wenn auch letztlich nur auf Zeit – ein aufgehobenes Leistungsvermögen des Klägers vorgelegen habe. Damit seien am 1. Juni 2006 bzw. nach der entsprechenden Bekanntgabe des Gutachtens an die Beklagte mit dem am 17. Juni 2006 zur Post gegebenen Schreiben des Gerichts vom 2. Juni 2006 die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit ab dem 1. Oktober 2006 erfüllt gewesen. Die Beklagte sei bereits zu diesem Zeitpunkt nach Kenntnis des gerichtlichen Sachverständigengutachtens in der Lage gewesen, dem Kläger entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen ab dem 1. Oktober 2006 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren, wobei sie den Zeitraum der Behebung der Erwerbsminderung und damit die Befristungsdauer hätte prognostizieren können und müssen. Ob sich die von Dr. med. BO im Sachverständigengutachten vom 1. Juni 2006 dargestellte Prognose einer Besserungsaussicht aufgrund der nachfolgend für die Zeit ab 26. September 2006 bewilligten stationären Rehabilitationsmaßnahme bewahrheiten würde, habe zu diesem Zeitpunkt noch nicht festgestanden. Nur im Falle einer tatsächlichen Besserung würde die Beklagte berechtigt gewesen sein, gemäß § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) wegen einer insoweit eingetretenen Änderung der Verhältnisse in der Leistungsfähigkeit des Klägers die bereits zuvor bewilligte Rente durch Aufhebung der Rentenbewilligungsentscheidung zu entziehen. In einem solchen Fall komme die Vorschrift des § 100 Abs. 3 Satz 2 SGB VI zur Anwendung, wonach noch für drei Monate eine sog. Schonrente zu zahlen sei. Dem könne die Beklagte sich nicht dadurch entziehen, das sie – in Kenntnis aller rentenmaßgeblichen anspruchsbegründenden Umstände – die Gewährung einer befristeten Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung so lange hinauszögere, bis das Ergebnis einer positiven Rehabilitationsmaßnahme vorliegt.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 26. Juli 2007 zugestellte Urteil des Sozialgerichts am 24. August 2007 Berufung eingelegt. Sie hat dem Kläger im Verlaufe des Berufungsverfahrens auf entsprechenden Antrag vom 17. Oktober 2007 durch in der Sache bindend gewordenen Bescheid vom 8. Mai 2008 unter Zugrundelegung eines am 8. Januar 2008 eingetretenen Leistungsfalls eine Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. August 2008 bis zum 31. Juli 2011 bewilligt.
Zur Begründung ihrer Berufung macht die Beklagte geltend, dass der zur Vorschrift des § 100 Abs. 3 Satz 2 SGB VI vertretenen Rechtsauffassung des Sozialgerichts nicht gefolgt werden könne. Die Regelung über die Gewährung einer sog. Schonrente sei als Ergänzung zur Vorschrift des § 48 SGB X zu verstehen und finde nur Anwendung bei Entzug oder Umwandlung einer bereits bewilligten Rente.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 28. Juni 2007 abzuändern und die Klage abzuweisen, soweit Ansprüche auf Rentenzahlung über den Monat Oktober 2006 hinaus geltend gemacht werden,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstands im Übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Rentenakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.