Bayerisches Landessozialgericht 14.09.2021, L 6 R 199/19

  • Spruchkörper: 6. Senat
  • Aktenzeichen: L 6 R 199/19
  • Instanzenaktenzeichen: S 47 R 686/18
  • Instanzgericht: Sozialgericht München
  • Gericht: Bayerisches Landessozialgericht
  • Entscheidungstyp: Urteil
  • Entscheidungsdatum: 14.09.2021

Tenor

  1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 19. März 2019 wird zurückgewiesen.
  2. Die außergerichtlichen Kosten sind zu erstatten.
  3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger macht als Testamentsvollstrecker über den Nachlass der am 29.09.2019 verstorbenen Versicherten die Gewährung einer Altersrente als Teilrente in Höhe von 99,99 Prozent der Vollrente anstatt der gewährten 99 Prozent der Vollrente geltend.

Die 1944 geborene Versicherte bezog ab November 1999 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Seit Februar 2009 gewährte die Beklagte eine Regelaltersrente.

Sie unterlag als nicht erwerbsmäßig tätige Pflegeperson seit 01.07.2017 der Rentenversicherungspflicht (Bescheid der Pflegekasse M vom 27.02.2018).

Mit Schreiben vom 18.06.2017 beantragte die Versicherte, die Altersrente ab 01.07.2017 als höchstmögliche Teilrente zu gewähren. Mit Bescheid vom 21.02.2018 berechnete die Beklagte die bisherige Regelaltersrente ab dem 01.07.2017 als Teilrente neu. Die Höhe der laufenden Zahlung wurde ab 01.04.2018 mit 516,12 Euro (99 Prozent der Regelaltersrente) festgesetzt. Für die Zeit vom 01.07.2017 bis zum 31.08.2018 ergab sich eine Überzahlung von 35,64 Euro.

Dagegen legte die Versicherte Widerspruch ein. Es sei die höchstmögliche Teilrente beantragt worden. Es sei daher eine Teilrente in Höhe von 99,49 Prozent oder 99,99 Prozent zu zahlen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 13.04.2018 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Der Anspruch auf Gewährung einer Teilrente sei in § 42 SGB VI geregelt. Danach könnten Versicherte eine Rente wegen Alters in voller Höhe (Vollrente) oder als Teilrente in Anspruch nehmen (Abs. 1). Gemäß Abs. 2 betrage eine unabhängig vom Hinzuverdienst gewählte Teilrente mindestens 10 Prozent der Vollrente. Sie könne höchstens in der Höhe in Anspruch genommen werden, die sich nach Anwendung von § 34 Abs. 3 SGB VI ergebe. § 42 Abs. 2 SGB VI sei durch das Gesetz zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben (Flexirentengesetz - FlexRG -) vom 08.12.2016 (BGBl. I S. 2838) neu gefasst. Die Regelung sei zum 01.07.2017 in Kraft getreten und ersetze die bis zum 30.06.2017 geltende Regelung, wonach eine Teilrente in Höhe von 1/3, 1/2, oder 2/3 der erreichten Vollrente in Anspruch genommen werden konnte. In § 42 Abs. 2 Satz 1 SGB VI werde als Mindesthöhe der Teilrente ein voller Prozentwert (10 Prozent) ohne Dezimalstelle genannt. In der Gesetzesbegründung fänden sich als Prozentangabe in Zusammenhang mit den frei wählbaren Teilrenten nur die Angabe 10 Prozent und 40 Prozent. Von den Rentenversicherungsträgern sei beschlossen worden, als Obergrenze der frei wählbaren Teilrente den Wert von 99 Prozent zugrunde zu legen.

Dagegen hat die Versicherte Klage zum Sozialgericht München (SG) erhoben und beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.02.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.04.2018 zu verurteilen, ihr Altersrente als Teilrente in Höhe von 99,99 Prozent ab 01.07.2017 zu zahlen.

Mit Urteil vom 19.03.2019 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.02.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.04.2018 verurteilt, der Versicherten Altersrente als Teilrente in Höhe von 99,99 Prozent ab 01.07.2017 zu bezahlen.

Die Versicherte könne vom 01.07.2017 an Regelaltersrente in Form einer Teilrente in Höhe von 99,99 Prozent der Vollrente beanspruchen. Dieser Anspruch ergebe sich unmittelbar aus § 42 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI in der Fassung vom 08.12.2016, gültig ab 01.07.2017. Den gesetzlichen Bestimmungen des § 42 SGB VI sei lediglich eine Mindestgrenze, nicht jedoch eine Höchstgrenze der Teilrente zu entnehmen. Eine solche ergebe sich lediglich für Altersrenten, in denen die Hinzuverdienstgrenze überschritten werde (vgl. § 42 Abs. 2 Satz 2 SGB VI i.V.m. § 34 Abs. 3 SGB VI). Dies sei bei der Klägerin jedoch nicht der Fall.

Gegen dieses Urteil, das der Beklagten am 01.04.2019 zugestellt worden ist, hat diese am 29.04.2019 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die Neuregelung des § 42 Abs. 2 Satz 1 SGB VI verfolge vorrangig den Sinn und Zweck, den individuellen Bedürfnissen der Versicherten nach einer selbstbestimmten Kombination von Erwerbstätigkeit und Rentenbezug stärker Rechnung zu tragen. Zugleich solle ein unverhältnismäßiger Verwaltungsaufwand vermieden werden (BT-Drucks. 18/9787, S. 41 zu Nr. 16). Deshalb sei es nur sachgerecht, den Anteil der gewählten Teilrente auf den Wert von 99 Prozent zu begrenzen. Nur so werde allen Intentionen in einem ausgeglichenen Verhältnis Rechnung getragen. Versicherte würden einen größtmöglichen Teil ihrer Rente beziehen, gleichzeitig Anspruch auf die Beitragszahlung für ihre Pflegeleistung haben und der Rentenversicherungsträger sei davon befreit, aufwändige Optimierungsberechnungen vorzunehmen, damit ein gewählter Prozentwert nicht den Betrag der Vollrente erreiche. Aus mathematischer Sicht sei zwar jeder Wert zwischen 99 und 99,9999 Prozent als Teilrente möglich, solange am Ende der Berechnung stets ein Wert stehe, der einen Cent niedriger als der Betrag der Vollrente sei. Die Erweiterung auf einen dezimalen Prozentwert für die größtmögliche Teilrente könne aber dazu führen, dass dieser Wert aufgrund von Aufrundungen den Eurobetrag der Vollrente erreiche und es sich infolgedessen nicht um eine Teilrente handele. Daher sei von den Rentenversicherungsträgern beschlossen worden, als Obergrenze der frei wählbaren Teilrente den Wert von 99 Prozent zugrunde zu legen. Sicherlich seien Fälle denkbar, in denen Versicherten vor Erreichen der Regelaltersgrenze wegen geringfügigen Überschreitens der Hinzuverdienstgrenze eine anteilige Rente von mehr als 99 Prozent zu zahlen sei. Die Zahlung einer vom Hinzuverdienst im Sinne des § 34 Abs. 6 abhängigen Altersrente nach Ablauf des Monats, in dem die Regelaltersgrenze erreicht wurde, sei nicht möglich. Die Vergleichbarkeit einer unabhängig vom Hinzuverdienst gewählten Teilrente nach Ablauf des Monats, in dem die Regelaltersrente erreicht wurde, mit einer wegen Überschreitens der Hinzuverdienstgrenze gezahlten höchstmöglichen Teilrente vor Erreichen der Regelaltersrente sei nicht gegeben.

Der Bevollmächtigte der Versicherten hat darauf hingewiesen, dass ein unverhältnismäßiger Verwaltungsaufwand nur schwerlich als Argument herangezogen werden könne, wenn der Teil-Rentenbetrag ohne weiteres berechnet werden könne. Die Beklagte errechne selbst seit Jahrzehnten z. B. Entgeltpunkte auf vier Stellen hinter dem Komma. Außerdem könnten grundsätzlich auch Ein-Euro-Beträge als Teilrente gewährt werden.

Die Versicherte ist 29.09.2019 verstorben. Sie hat ihren Bevollmächtigten als Testamentsvollstrecker eingesetzt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 19.03.2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen und zur Ergänzung des Tatbestands wird im Übrigen auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, der Gerichtsakten sowie der vorbereitenden Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts München vom 19.03.2019 ist nicht zu beanstanden. Der Bescheid der Beklagten vom 21.02.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.04.2018 ist rechtswidrig.

Der Kläger ist Testamentsvollstrecker über den Nachlass der 1944 geborenen und am 29.09.2019 verstorbenen Versicherten und ist insoweit alleine aktivlegitimiert (vgl. § 2212 BGB). Es besteht ein berechtigtes Interesse des Klägers an der Klage, da sich 0,99 Prozent der Rente betragsmäßig in nennenswerter Höhe auswirkt (bei wirtschaftlicher Geringfügigkeit vgl. BSG vom 12.07.2013, B 14 AS 35/12 R).

Die Klage ist begründet. Für die Zeit ab 01.07.2017 bis zum Tod der Versicherten hat die Versicherte einen Anspruch auf Rente wegen Alters als Teilrente in Höhe der beantragten 99,99 Prozent. Gemäß § 42 Abs. 2 SGB VI in der Fassung vom 08.12.2016 (BGBl. I S. 2838, Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch durch das FlexRG: Gesetz zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben, in Kraft getreten zum 01.07.2017) beträgt eine unabhängig vom Hinzuverdienst gewählte Teilrente mindestens 10 Prozent der Vollrente. Sie kann höchstens in der Höhe in Anspruch genommen werden, die sich nach Anwendung von § 34 Abs. 3 SGB VI ergibt.

Der Wortlaut der Regelung des § 42 SGB VI enthält keine ausdrückliche Prozentregelung für den Höchstsatz der Teilrente. Auch in der Gesetzesbegründung finden sich dazu keine näheren Angaben. In Zusammenhang mit den frei wählbaren Teilrenten finden sich in der Begründung nur die Angabe 10 Prozent und 40 Prozent (vgl. BT-Drucks. 18/9787, S. 41, 42 zu Nr. 16 und 17).

Soweit die Beklagte vorbringt, die Rentenversicherungsträger hätten beschlossen als Obergrenze der frei wählbaren Teilwerte den Wert von 99 Prozent zugrunde zu legen, da ein Wert zugrunde gelegt werden müsse, der bei größtmöglicher Teilrente aufgrund von Aufrundungen nicht den Eurobetrag der Vollrente erreiche, ist dem insoweit zuzustimmen, als eine Grenze unterhalb der Vollrente festzusetzen ist.

Die von der Beklagten gesetzte Grenze von 99 Prozent ist jedoch dem Wortlaut des Gesetzes nicht zu entnehmen und verkürzt die Rente der Versicherten ohne ausreichende Rechtfertigung. Sinn und Zweck des Gesetzes erfordern diese Auslegung entgegen der Auffassung der Beklagten nicht.

Die Neuregelung verfolgt das Ziel, den individuellen Bedürfnissen der Versicherten nach einer selbstbestimmten Kombination von Erwerbstätigkeit und Rentenbezug stärker Rechnung zu tragen. Zugleich soll ein unverhältnismäßiger Verwaltungsaufwand vermieden werden (BT-Drucks. 18/9787, a.a.O.). Soweit die Beklagte insoweit vorträgt, der Rentenversicherungsträger sollte davon befreit sein, aufwändige Optimierungsberechnungen vorzunehmen, damit ein gewählter Prozentwert nicht den Betrag der Vollrente erreiche, kann dies nicht überzeugen. Der Wert von 99,99 Prozent kann ohne größeren Aufwand bestimmt werden. Gleichzeitig hat die Beklagte selbst eingeräumt, dass Fälle denkbar sind, in denen Versicherten vor Erreichen der Regelaltersgrenze wegen geringfügigen Überschreitens der Hinzuverdienstgrenze eine anteilige Rente von mehr als 99 Prozent zu zahlen ist. Vor diesem Hintergrund sind die Praktikabilitätserwägungen der Beklagten nicht nachvollziehbar. Dem in der Gesetzesbegründung aufgeführten Ziel der Vermeidung von hohem Verwaltungsaufwand hat der Gesetzgeber durch die 10 Prozent-Regelung Rechnung getragen. Ein unverhältnismäßiger Verwaltungsaufwand wird insoweit vermieden, als die gewählte Teilrente mindestens 10 Prozent der Vollrente betragen muss (vgl. Freudenberg in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB VI § 42 SGB VI Rdnr. 21).

Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die vom SG wie vom Senat vertretene Rechtsauffassung auch in Übereinstimmung mit den allgemeinen Berechnungsgrundsätzen der §§ 121 ff. SGB VI steht. Nach § 121 Abs. 1 SGB VI sind Berechnungen im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich auf vier Dezimalstellen genau vorzunehmen. Es handelt sich hierbei um einen allgemeinen Grundsatz über die Durchführung von Rechenvorgängen (Fichte in: Hauck/Noftz, SGB, 02/10, § 121 SGB VI, Rn. 1), der nach Auffassung des Senats auch im Rahmen der prozentualen Berechnung von Teilrenten zum Tragen kommt. Selbst wenn man dem nicht folgen wollte, so regelt § 123 Abs. 1 SGB VI die Berechnung von Geldbeträgen auf zwei Dezimalstellen genau. Diese Bestimmung gilt für alle in der Rentenversicherung geltenden Werte, soweit sie Zahlungen an Versicherte oder Rentner beinhalten (vgl. Dankelmann in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB VI, § 123 Rdn. 12, 13). Da die prozentuale Festlegung einer Teilrente unmittelbare Auswirkung auf den Zahlbetrag der Rente hat, wird das klägerische Begehren, eine Teilrente in Höhe von 99,99 Prozent ausgezahlt zu bekommen, jedenfalls von der Bestimmung des § 123 Abs. 1 SGB VI gedeckt. Das Argument der Beklagten, es sei eine Erweiterung der Dezimalstellen bis zu einem größtmöglichen Zahlbetrag der Teilrente (ein Cent unter der Vollrente) zu befürchten, ist angesichts dieser gesetzlichen Bestimmungen entkräftet. Es würde im vorliegenden Verfahren auch keine Rolle spielen, da der Kläger die begehrte Teilrente ausdrücklich auf einen Betrag von 99,99 Prozent der Vollrente begrenzt hat.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits mit einem Obsiegen des Klägers. Die Beklagte hat diesem die notwendigen außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 1 und Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen im Hinblick auf die eindeutigen gesetzlichen Bestimmungen nicht vor.

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