Landessozialgericht Hessen 28.08.2012, L 1 KR 369/10

  • Aktenzeichen: L 1 KR 369/10
  • Spruchkörper: 1. Senat
  • Instanzenaktenzeichen: S 15 KR 68/07
  • Instanzgericht: Sozialgericht Gießen
  • Gericht: Hessisches Landessozialgericht
  • Entscheidungstyp: Urteil
  • Entscheidungsdatum: 28.08.2012

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für das Arzneimittel Nitoman in der Zeit vom 6. Januar 2006 bis 19. Januar 2007 hat.

Die 1937 geborene Klägerin leidet u.a. an facialen und oromandibulären Dyskinesien (Bewegungstörungen, Dystonien) ungeklärter Ätiologie sowie an einem Parkinson-Syndrom. Aufgrund dieser Erkrankung leidet die Klägerin - unter fehlender Therapie mit Tetrabenazin - u.a. an Schluck- und Sprechstörungen. Seit dem Jahr 1998 wird sie wegen der Dyskinesien u.a. mit dem Arzneimittel Nitoman (Wirkstoff Tetrabenazin) behandelt. Hierfür sind ihr in der Zeit vom 6. Januar 2006 bis 19. Januar 2007 Kosten in Höhe von 3.977,80 EUR entstanden.

Der Tetrabenazin wurde 1971 in Großbritannien und Australien, später in weiteren europäischen Ländern, in Kanada und den USA zur Behandlung der Chorea (Hypertonie der Muskulatur) der Huntington-Krankheit zugelassen (vgl. Schrader/Dengler/Dressler, Psychopharmakotherapie, 2010, S. 85). In Deutschland erfolgte die Zulassung erst im Jahre 2007.

Unter dem 3. Januar 2006 beantragte die Klägerin die Kostenübernahme für die Behandlung mit Nitoman. Sie legte eine Bescheinigung ihrer Hausärztin Dr. QQ. vor, wonach bei Absetzen von Nitoman schwere Pflegebedürftigkeit und die Erforderlichkeit von Sondenernährung drohe. Ferner führte Prof. Dr. WW., Neurologische Klinik, Universitätsklinikum KN., unter dem 15. Dezember 2005 aus, dass bislang lediglich die Behandlung mit Tetrabenazin gewirkt habe und dringend fortzusetzen sei.

Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung in Hessen (MDK) gab mit Gutachten vom 16. Januar 2006 an, dass die Behandlung mit Nitoman sozialmedizinisch nicht zu empfehlen sei, weil es an einer Zulassung fehle und es sich bei der Krankheit der Klägerin auch nicht um eine seltene, nicht erforschbare Erkrankung handele. Zudem läge keine valide und abschließende Bewertung von Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und therapeutischem Nutzen von Tetrabenazin in der Behandlung unterschiedlicher Dyskinesien vor.

Mit Bescheid vom 2. Januar 2006 lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag unter Bezugnahme auf das Gutachten des MDK ab. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein.

Mit Gutachten vom 1. Juli 2006 und 4. September 2006 führte der MDK aus, dass die Erkrankung der Klägerin nicht hinreichend diagnostiziert und die Schwere der Symptomatik sowie die klinischen Befunde nicht ausreichend dokumentiert seien. Eine seltene Erkrankung sei nicht erkennbar.

Am 19. Januar 2007 wurde Nitoman in Deutschland arzneimittelrechtlich für die Behandlung von hyperkinetischen Bewegungsstörungen bei Chorea Huntington sowie bei mittelschweren bis schweren Spätdyskinesien (tardive Dyskinesien), die auf andere Therapiemaßnahmen nicht angesprochen haben, zugelassen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 2007 wies die Beklagte den von der Klägerin erhobenen Widerspruch zurück. Das Medikament sei nicht zugelassen. Die Voraussetzungen für eine Off-Label-Use-Behandlung lägen nicht vor. Aufgrund der Befundlage sei unklar, weshalb die Behandlung mit diesem Medikament erfolge. Ferner handele es sich nicht um eine seltene, nicht erforschbare Erkrankung und es liege auch keine akut lebensbedrohliche Situation vor.

Am 16. März 2007 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Gießen erhoben.

Seit dem 20. März 2007 gewährt die Beklagte die Versorgung mit Nitoman als Sachleistung.

Die Klägerin ist der Auffassung, dass angesichts der Zulassung des Arzneimittels auch für die Zeit vor dem 20. März 2007 ein entsprechender Kostenerstattungsanspruch bestehe. Sie leide an einer lebensbedrohlichen und seltenen Krankheit, bei der alle anderen in Betracht kommenden Medikamente erfolglos gewesen seien.

Die Beklagte ist der Klage unter Vorlage der Stellungnahmen des MDK vom 4. Oktober 2007, 3. März 2009 und 29. Oktober 2009 entgegengetreten. Sie ist der Auffassung, dass Nitoman zur Behandlung des Parkinson-Syndroms nicht zugelassen und ein "Off-Label-Use" nicht möglich sei. Eine lebensbedrohliche Situation liege nicht vor. Schluckstörungen sowie Aspirationsgefahr seien bei der Nichtgabe von Nitoman nicht nachgewiesen.

Das Sozialgericht hat ein neurologisches Gutachten von Prof. Dr. EE., Direktor der Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum OD. und OF., eingeholt. Dieser hat unter dem 9. Januar 2009 oromandibuläre Dyskinesien ungeklärter Ätiologie mit hierdurch bedingten Schluckstörungen bei der Klägerin diagnostiziert. Aufgrund der Schluckstörung hätten eine Aspirationsgefahr sowie eine Gefährdung der Fähigkeit zur Nahrungsaufnahme bestanden. Da es nach einem Absetzversuch von Tetrabenazin in der Universitätsklinik KN. zu einer deutlichen Agravierung der Beschwerdesymptomatik der oromandibulären Dyskinesien gekommen sei, könne von einer notstandsähnlichen Situation ausgegangen werden. In Verbindung mit einem Parkinson-Syndrom sei die Erkrankung der Klägerin sehr selten. Sie sei zwar nicht lebensbedrohlich, aber es bestünde die Gefahr der Hinderung oraler Ernährung bei Absetzung des Medikaments. Zur Behandlung von "medikamentös induzierten und sonstigen extrapyramidalen Störungen" sei Biperiden und bei "neuroleptika-induzierten Spätdyskinesien vorwiegend oro-bucco-lingualer Art" Tiaprid zugelassen. Diese seien allerdings bei der Behandlung der Klägerin nicht wirksam bzw. der Wirksamkeit von Nitoman unterlegen. Die Indikationszulassung von Nitoman umfasse nicht die Erkrankung der Klägerin. Die Zulassung sei für "tardive Dyskinesien" erfolgt, welche bei der Klägerin nicht vorliege. Unter dem 2. September 2009 hat der Sachverständige ferner ausgeführt, dass entgegen der Auffassung des MDK - schwere Bewegungsstörungen mit Schluckstörungen bei der Klägerin durch die Dokumentation nachgewiesen seien. Diese hätten bislang nur auf Tetrabenazin angesprochen und sich nach Absetzen dieses Medikaments verschlechtert. Die Behandlung mit Nitoman sei gerechtfertigt.

In der vom Sozialgericht eingeholten Stellungnahme vom 22. Juni 2010 hat Dr. RR., Chefarzt am Fachklinikum TT., Neurologie, Neuropsychologie, Zentrum für Schluckstörungen ausgeführt, dass oromandibuläre Dyskinesien ungeklärter Ätiologie mit hierdurch bedingten Schluckstörungen sehr selten seien. Für alle Therapieverfahren einschließlich Tetrabenazin gelte, dass keine sicheren Studienergebnisse vorlägen, die eine günstige oder ungünstige Wirkung belegten. Unter Bezugnahme auf Prof. Dr. D. hat er festgestellt, dass es wegen der Seltenheit oromanibulärer Dyskinesien nie aussagekräftige Medikamentenstudien geben werde. Die Behandlung der Klägerin mit Nitoman sei leitliniengerecht. Diese Auffassung hat Dr. RR. mit Stellungnahme vom 30. Juli 2010 bekräftigt und ausgeführt, dass in der maßgeblichen Leitlinie unter "spezieller Therapie" für die oromanibulären Dyskinesien u.a. Tetrabenazin genannt werde.

Mit Urteil vom 14. Oktober 2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Nitoman sei im streitigen Zeitraum weder in Deutschland noch innerhalb der Europäischen Union zugelassen gewesen. Daher könne die Klägerin das Medikament nicht nach den Grundsätzen des sogenannten Off-Label-Use beanspruchen. Auch ein Anspruch nach den Grundsätzen des so genannten Seltenheitsfalles bestehe nicht. Hierbei reiche es nicht aus, dass die Behandlung mit dem fraglichen Medikament leitliniengerecht sei. Denn die Krankheit der Klägerin stelle keine singuläre unerforschbare Krankheit dar. Es bedürfe einer engen Auslegung dieser Anspruchsvoraussetzung, um zu gewährleisten, dass auch der Einsatz des Medikaments ein Einzelfall bleibe und die Einbeziehung in die krankenversicherungsrechtliche Leistungspflicht nicht zu einer arzneimittelrechtlichen Zulassung durch die Hintertür führe. Zwar legten die Sachverständigen Prof. Dr. EE. und Dr. RR. dar, dass die Klägerin unter einer (sehr) seltenen Krankheit leide. Dies bedeute aber nicht, dass sie auch unerforschbar sei. Der Umstand, dass es mindestens ein Medikament (Biperiden) gebe, das für die Erkrankung der Klägerin zugelassen sei, zeige, dass keine singuläre unerforschbare Krankheit vorliege. Denn aus der arzneimittelrechtlichen Zulassung zur Behandlung der Krankheit der Klägerin folge, dass kontrollierte Studien zur Wirksamkeit und Unbedenklichkeit durchgeführt werden könnten. Ein Anspruch der Klägerin ergebe sich auch nicht aus verfassungsrechtlichen Grundsätzen. Eine lebensbedrohliche oder in der Regel tödlich verlaufende Krankheit oder auch eine wertungsmäßig vergleichbare Krankheit liege bei der Klägerin nicht vor. Eine solche setze voraus, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen werde, was vorliegend nicht der Fall sei. Prof. Dr. EE. habe in seinem Gutachten ausgeführt, dass es sich bei der Beschwerdesymptomatik der Klägerin nicht um eine lebensbedrohliche Situation handele. Die Gefahr, dass bei Absetzung von Nitoman Schluckstörungen entstünden, die zu der Gefahr einer Hinderung der oralen Ernährung der Klägerin führten, genüge nicht, um eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer lebensbedrohlichen oder in der Regel tödlich verlaufenden Krankheit anzunehmen. Bei weiter Auslegung würde dieses vom Bundesverfassungsgericht herangezogene Kriterium sinnentleert, weil nahezu jede Krankheit ohne therapeutische Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohende Konsequenzen nach sich ziehe. Die Ersetzung von Nitoman durch Tiaprid oder Biperiden möge die Beschwerdesymptomatik der Klägerin verschlechtern. Hieraus folge aber nicht, dass dadurch unmittelbar die Fähigkeit zur Nahrungsaufnahme gefährdet sei.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 11. November 2010 zugestellte Urteil am 1. Dezember 2010 vor dem Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt und vorgetragen, dass sie an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leide. Die Erkrankung sei gekennzeichnet durch eine deutliche Schluck- und Sprechstörung. Aufgrund der Erkrankung sei sie abgemagert und geschwächt. Das Medikament Nitoman ermögliche ihr, sich einigermaßen oral zu ernähren. Aufgrund der Aspirationsgefahr und der Hinderung der oralen Ernährung wegen der Schluckstörung sei von einer notstandsähnlichen Situation auszugehen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 14. Oktober 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Februar 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die Kosten für die Beschaffung von Nitoman bis zum Zeitpunkt der Zulassung in Höhe von 3.977,80 EUR zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend. Es liege keine lebensbedrohliche, regelmäßig tödlich verlaufende Krankheit vor. Insbesondere sei nicht nachgewiesen, dass Schluckstörungen überhaupt in einem lebensbedrohlichen Ausmaß vorgelegen hätten. Ferner stünden Behandlungsalternativen zur Verfügung.

Der Senat hat ein neurologisches Gutachten von Prof. Dr. D., Klinik für Neurologie im Neurozentrum, Universitätsklinikum ZZ. eingeholt. Dieser hat unter dem 7. Juni 2012 ausgeführt, dass es sich bei der maßgeblichen Erkrankung der Klägerin um eine extrem seltene Erkrankung handele, zu welcher es keine größeren Studien gebe oder geben werde. Daher sei die Erkrankung der Klägerin einer systematischen Erforschung von darauf bezogenen Therapiemöglichkeiten nicht zugänglich. Ein Behandlungsversuch mit Biperiden vor dem Beginn der Behandlung mit Nitoman sei durchgeführt worden, habe jedoch keinen wesentlichen Effekt gehabt. Im Gegensatz dazu ergebe die Dokumentation, dass die Behandlung mit Nitoman zu einem deutlich verbesserten Zustand der Klägerin insbesondere auf die oromandibulären Überbewegungen geführt habe. Die Behandlung mit diesem Medikament sei daher der Behandlung mit Biperiden eindeutig überlegen gewesen. Da die Dyskinesien und Dystonien nicht nur im oromandibulären, sondern auch im Zungen- und Schlundbereich zu finden gewesen seien, könne eine Zunahme der Symptomatik zu einer schweren Beeinträchtigung der Atem- und Schluckfunktionen führen. Diese Beeinträchtigung führe dann zu einem potentiell lebensbedrohlichen Krankheitsbild, das in einer solchen akuten Zuspitzungssituation extrem schwierig zu behandeln sei. Hierbei sei zu bedenken, dass insbesondere das Absetzen einer langjährig bestehenden stabilen medikamentösen Therapie eine rasche Verschlechterung begünstige. Die Frage, ob es sich bei der Erkrankung der Klägerin um eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung handele oder dieser mit einer solchen notstandsähnlichen Situation gleichzusetzen sei, sei damit eindeutig zu bejahen.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Die zulässige Berufung ist begründet.

Die Klägerin hat Anspruch auf die von ihr geltend gemachte Kostenerstattung.

Rechtsgrundlage für die Erstattung der Kosten für die selbstbeschaffte Behandlung ist § 13 Abs. 3 Alt. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Eine Krankenkasse ist danach zur Kostenerstattung verpflichtet, wenn sie eine notwendige Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind. Der in Betracht kommende Kostenerstattungsanspruch reicht dabei nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch. Er setzt daher voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben. Die Krankenkasse ist nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 3 i.V.m. § 31 Abs. 1 SGB V zur ärztlichen Behandlung der bei ihr Versicherten einschließlich der Versorgung mit den für eine Krankenbehandlung notwendigen Arzneimitteln verpflichtet. Der Behandlungs- und Versorgungsanspruch eines Versicherten unterliegt allerdings den sich aus § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Er umfasst folglich nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Es kann daher nicht schon zur Leistungspflicht der Krankenkasse führen, dass eine Therapie nach Einschätzung der behandelnden Ärzte positiv verlaufen ist oder einzelne Ärzte sie befürwortet haben (st. Rspr., vgl. BSG Urteil vom 19. Oktober 2004 – B 1 KR 27/02 R).

Voraussetzung für die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung hinsichtlich der Versorgung mit einem Medikament ist ferner grundsätzlich die arzneimittelrechtliche Zulassung in Deutschland. Ausnahmsweise besteht aber auch dann ein Anspruch auf Versorgung, wenn eine sehr seltene Krankheit vorliegt, die sich wegen ihrer Seltenheit der systematischen wissenschaftlichen Untersuchung entzieht und für die deshalb keine wissenschaftlich auf ihre Wirkung überprüfte Behandlungsmethode zur Verfügung stehen kann. Dabei ist weitere Voraussetzung, dass eine notstandsähnliche Situation vorliegt, d.h. eine schwerwiegende (lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende) Erkrankung behandelt werden soll, für die keine andere Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung steht und die streitige Behandlung nicht lediglich ungenügende Erfolgsaussichten bietet. Dabei kommt es nicht auf eine ex-post-Betrachtung des tatsächlichen Erfolgs an. Um eine Mindestqualität zu gewährleisten, müssen vielmehr die im Zeitpunkt der Behandlung verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse die Annahme rechtfertigen, dass der voraussichtliche Nutzen der Maßnahme die möglichen Risiken überwiegen wird (vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 – B 1 KR 27/02 R).

Nach diesen Grundsätzen ist von einer Versorgungspflicht der Beklagten auszugehen. Das streitige Medikament war in der fraglichen Zeit nicht in Deutschland, aber in Großbritannien, Australien, den USA und in weiteren europäischen Ländern zugelassen. Bei den oromandibulären Dyskinesien und Dystonien - auch im Hinblick auf das zusätzlich bestehende Parkinson-Syndrom - ist von einer sehr seltenen, einer systematischen Erforschung von darauf bezogenen Therapiemöglichkeiten nicht zugänglichen Erkrankung auszugehen. Dies ergibt sich aus dem Gutachten von Prof. Dr. D. vom 7. Juni 2012, der nachvollziehbar und überzeugend dargelegt hat, dass zu der sehr seltenen Erkrankung der Klägerin keine größeren Therapiestudien möglich seien und entsprechend auch nicht vorlägen. Diese Einschätzung wird von Dr. RR. (Stellungnahme vom 22. Juni 2010) und Prof. Dr. EE. (Gutachten vom 7. Dezember 2008) geteilt. Zudem ist den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur Dystonie unter Punkt 4.4 "Spezielle Therapie" zu entnehmen, dass die Mehrzahl der klinisch anerkannten Therapieverfahren bei dystonen Bewegungsstörungen nicht oder nur unzureichend durch kontrollierte klinische Studien belegt sind. Die Heterogenität dystoner Bewegungsstörungen und die häufig nur kleinen Fallzahlen bei einzelnen dystonen Syndromen trügen hierzu ungünstig bei (http://www.awmf.org/uploads/tx szleitlinien/030-039 S1 Dystonie 10-2008 10-2013.pdf). Diese Leitlinien befinden sich lediglich in der Entwicklungsstufe S1. Sie sind von einer Expertengruppe im informellen Konsens erarbeitet und bisher ohne geschlossen dokumentierte Beleglage zur möglichen Evidenz. Sie stehen daher der Annahme einer sehr seltenen, einer systematischen Erforschung von darauf bezogenen Therapiemöglichkeiten nicht zugänglichen Erkrankung nicht entgegen.

Darüber hinaus liegt auch eine schwerwiegende (lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende) Erkrankung vor, für die keine andere Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung steht. Ferner bietet die streitige Behandlung nicht lediglich ungenügende Erfolgsaussichten. Die Erkrankung der Klägerin geht mit einer Aspirationsgefahr und der Gefährdung der Fähigkeit zur Nahrungsaufnahme infolge der Schluckstörungen einher. Ob dabei bereits eine unmittelbare Lebensgefahr zu bejahen ist, kann dahinstehen, da es sich jedenfalls um eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung handelt. Der Senat folgt insoweit den Einschätzungen von Prof. Dr. EE. in seinem Gutachten vom 9. Januar 2009 sowie von Prof. Dr. D., der in seinem Gutachten vom 7. Juni 2012 betont hat, dass eine Zunahme der Symptomatik zu einer schweren Beeinträchtigung der Atem- und Schluckfunktionen führen könne. Diese Beeinträchtigung führe dann zu einem potentiell lebensbedrohlichen Krankheitsbild, das in einer solchen akuten Zuspitzungssituation extrem schwierig zu behandeln sei. Darüber hinaus sei zu bedenken, dass das Absetzen einer langjährig bestehenden stabilen medikamentösen Therapie eine solche rasche Verschlechterung begünstige. Eine andere Behandlungsmöglichkeit stand im streitigen Zeitraum nicht zur Verfügung. Die Klägerin ist mit anderen Medikamenten (insb. Biperiden seit 1996 und Tiaprid seit 1997) behandelt worden. Biperiden ist für die Behandlung medikamentös induzierter und sonstiger extrapyramidaler Störungen zugelassen. Die Zulassung von Tiaprid bezieht sich auf die Behandlung von neuroleptika-induzierten Spätdyskinesien. Nach dem Gutachten von Prof. Dr. EE. entspricht dies in dem hier maßgeblichen Kontext dem Zulassungsbereich von Tetrabenazin. Zudem hat die Behandlung mit Biperiden und Tiaprid nicht zu einem spürbaren positiven Effekt geführt. Auch insoweit kann auf die überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. D. und Prof. Dr. EE. verwiesen werden, die mit den Ausführungen von Prof. Dr. WW. vom 15. Dezember 2005 übereinstimmen. Im Zeitpunkt der Behandlung rechtfertigten schließlich auch die verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse die Annahme, dass der voraussichtliche Nutzen der Maßnahme die möglichen Risiken überwiegen werde. Nach dem Gutachten von Prof. Dr. D. ist aus kleineren Fallstudien und klinischen Erfahrungen bekannt, dass Nitoman wirksam sein könne. Ferner hat Prof. Dr. EE. ausgeführt, dass es gerechtfertigt gewesen sei, die Indikation zur Therapie der oromanibulären Dyskinesien mit Tetrabenazin bezüglich der Phänomentologie und nicht der Ätiologie zu stellen. Die Einordnung erfolge daher auf der Ebene der tartiven Dyskinesien. Nach Expertenmeinungen habe zudem bereits 2007 von dem Nutzen der Behandlung mit Tetrabenazin ausgegangen werden können (Verweis auf die Veröffentlichungen von Jankovic sowie das Therapiebuch für Neurologie von Brandt/Dichgans/Diener). Dem entspricht auch, dass - wie von Dr. RR. in seiner Stellungnahme vom 30. Juli 2010 angeführt - nach den o.g. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur Dystonie unter Punkt 4.4 "Spezielle Therapie" Tetrabenazin für die Therapie der oromanidibulären Dystonie empfohlen wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

 

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