Landessozialgericht Hessen 27.10.2011, L 8 KR 338/09
- Aktenzeichen: L 8 KR 338/09
- Spruchkörper: 8. Senat
- Instanzenaktenzeichen: S 18 KR 97/07
- Instanzgericht: Sozialgericht Darmstadt
- Gericht: Hessisches Landessozialgericht
- Entscheidungstyp: Urteil
- Entscheidungsdatum: 27.10.2011
Tatbestand:
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Klägerin im Rahmen ihrer Tätigkeit für den Betrieb ihres Ehemannes, dem Beigeladenen zu 2., in der Zeit vom 01.02.1993 bis zum 30.10.2006 abhängig beschäftigt war und damit der Sozialversicherungspflicht unterlag.
Die 1955 geborene Klägerin hat den Beruf der Apothekenhelferin erlernt. Sie hatte 1996 geheiratet mit dem gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Sie ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Ihr zum Gerichtsverfahren beigeladener Ehemann betreibt ein Taxi- und Busunternehmen, als dessen Einzelinhaber er firmiert.
Die Klägerin war im streitgegenständlichen Zeitraum in dieser Firma tätig und vorrangig mit Bürotätigkeiten betraut. Sie erhielt für ihre Tätigkeit ein monatliches Entgelt von brutto 550,00 EUR, das regelmäßig auf ein privates Konto überwiesen wurde, für das Lohnsteuer entrichtet wurde und das als Betriebsausgabe gebucht wurde. Entsprechende monatliche Gehaltsabrechnungen wurden unter der Firma des Ehemannes erstellt. Die Firmenbuchhaltung und die Fertigung der Steuererklärungen oblagen einer Steuerberaterkanzlei. Die Eheleute sind gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt worden. Die Einkommenssteuerbescheide für 1999 und die Folgejahre weisen für den Ehemann Einkünfte aus Gewerbebetrieb und für die Klägerin Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit aus. Daneben machte sie steuerlich Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung einer Halle und Abstellfläche geltend, die der Firma ihres Mannes zur Nutzung überlassen wurden. Auf dem Betriebsgelände befindet sich im selben Gebäude wie die Wohnung der Eheleute auch das Geschäftsbüro. In der Wohnung steht ein Funkgerät zur Kommunikation mit den Taxifahrern und ein Tefefon, mit dem Anrufe an die Firmenanrufe entgegen genommen werden können. Die Klägerin fungiert zugunsten des Unternehmens als Bürgin in Höhe von 407.000,00 DM und hat ein Darlehen in Höhe von 93.000,00 EUR gestellt.
Vom 1.2.1993 bis zum 30.10.2006 war die Klägerin zur Sozialversicherung als Arbeitnehmerin der Firma ihres Ehemannes angemeldet. Zum 01.11.2006 erfolgte ihre Abmeldung.
Mit Schreiben vom 18.12.2005 beantragte die Klägerin unter Berufung auf die Vermögensanlagefirma XY. (gemeint ist XY. AG, Institut zur Regulierung der Sozialversicherung mit Gesellschaftssitz in RB. und Repräsentanz in GN.; diese Gesellschaft wirbt damit, dass sie im Falle einer möglichen Ausgliederung aus der gesetzlichen Sozialversicherung spezifische Versorgungsanalysen erstelle und für den Schutz durch eine lückenlose wirtschaftliche Absicherung sorge, so z.B. in ihrem Internetauftritt mit der URL http.//www.xxxxxxxxxx) bei der Beklagten die Überprüfung ihrer Sozialversicherungspflicht. Für den Fall, dass die Prüfung eine Befreiung von der Sozialversicherungspflicht ergebe, werde sie die geleisteten Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung zurückfordern. In dem von der Klägerin und ihrem Ehemann unterzeichneten Feststellungsbogen zur Beurteilung der Sozialversicherungspflicht eines Beschäftigungsverhältnisses zwischen Angehörigen finden sich die Angaben, die Klägerin sei in der Firma ihres Ehemannes als Bürokraft und Taxifahrerin tätig. Der zeitliche Umfang ihrer Tätigkeit betrage bei 6-7 Wochenarbeitstagen 50 bis 60 Stunden je Woche. Weisungen unterliege sie nicht. Sie könne ihre Tätigkeit frei bestimmen. Der von der Klägerin eingeschaltete Steuerberater und Rechtsanwalt NW. führte sodann in seinem an die Beklagte gerichteten Schriftsatz vom 23.12.2005 weiter aus, der Betrieb beschäftige 7 Aushilfen. Die Klägerin erteile diesen Weisungen. Sie selbst sei nicht weisungsgebunden. Sie habe eine mündlich ausgesprochene Alleinvertretungsberechtigung. Gegen eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung spreche bereits der Umfang der von ihr für den Betrieb übernommenen Bürgschaften. Es liege kein Arbeitsvertrag vor.
Demgegenüber steht jedoch folgender Sachverhalt, der in der von der beigeladenen Bundesagentur für Arbeit (Beigeladene zu 3.) erst im Berufungsverfahren vorgelegten Leistungsakte dokumentiert ist: Im Dezember 2000 hatte die Klägerin bei der Beklagten die Prüfung beantragt, ob ihre Tätigkeit in der Firma ihres Ehemannes, wie von den Eheleuten seinerzeit gewünscht, der Sozialversicherungspflicht unterliege. Hierzu bedurfte es damals der Zustimmung des Arbeitsamtes. Für dessen Prüfung hatten die Klägerin und ihr Ehemann einen von beiden unter dem 01.11.1999 unterzeichneten Anstellungsvertrag vorgelegt, im dem die Firma des Ehemannes als Arbeitgeber und die Klägerin als Arbeitnehmerin bezeichnet werden. Darin heißt es, das Dienstverhältnis beginne am 11.11.1999 und werde auf unbestimmte Zeit abgeschlossen. Die Arbeitszeit betrage wöchentlich 15 Stunden. Die Arbeitnehmerin sei als Bürokraft beschäftigt und habe dabei alle ihr übertragenen Arbeiten zu übernehmen. Die Arbeitnehmerin erhalte ein Gehalt von 1000 DM brutto. Ihr stehe ein Jahresurlaub von 28 Arbeitstagen zu. Das Arbeitsverhältnis könne beiderseits unter Einhaltung von 4 Wochen zum Jahresschluss gekündigt werden. Die Beklagte hatte hierauf mit Bescheid vom 26.01.2001, der an die Klägerin gerichtet war, festgestellt, dass bei der Klägerin Versicherungspflicht im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses als Angestellte vorliege. Das Arbeitsamt N. hatte diesem Feststellungsbescheid unter dem 19.04.2001 zugestimmt – die Klägerin hatte hierüber gleichfalls einen förmlichen Bescheid erhalten – und damit auch Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung bejaht.
Der Beklagten lag dieser Vorgang zum Zeitpunkt der Antragstellung der Klägerin im Dezember 2005 nicht mehr vor, da sie ihn entsprechend der nur 4 Jahre betragenden Aufbewahrungsfrist bereits vernichte hatte. Sie stellte mit Bescheid vom 23.10.2006 die Versicherungspflicht der Klägerin in alten Zweigen der Sozialversicherung fest. Die Klägerin erhalte ein Gehalt, auf das Lohnsteuer entrichtet und das als Betriebsausgabe verbucht werde. Zudem ersetze sie eine "fremde" Arbeitskraft. Den hiergegen am 9.11.2006 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30.3.2007 zurück.
Hiergegen erhob die Klägerin am 20.04.2007 Klage zum Sozialgericht Darmstadt. Sie trug vor, die Anmeldung zur Sozialversicherung sei nur "pro forma erfolgt. Der Steuerberater habe sie diesbezüglich beraten. Sie habe zum damaligen Zeitpunkt nicht gewusst, dass es auch andere Möglichkeiten gäbe. Erst durch einen ähnlich gelagerten Fall im Bekanntenkreis seien sie und ihr Ehemann auf die ldee gekommen, dass ihre Tätigkeit wohl nicht sozialversicherungspflichtig sei. Daher habe sie sich im Jahr 2006 auch von der Sozialversicherung abmelden lassen.
Das Sozialgericht zog die Akte des Finanzamtes HW. zur Einkommenssteuerveranlagung der Klägerin und ihres Ehemannes bei. Es hörte im Rahmen seiner mündlichen Verhandlung die Klägerin sowie deren Ehemann persönlich.
Mit Urteil vom 22.10.2009 gab das Sozialgericht der Klage statt und tenorierte wie folgt: "Der Bescheid der Beklagten vom 23.10.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.03.2007 wird aufgehoben und es wird festgestellt, dass die Tätigkeit der Klägerin bei der Beigeladenen zu 1) in der Zeit vom 01.02.1993 bis zum 31.10.2006 nicht im Rahmen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt wurde".
Zur Begründung führte es aus: Die Klägerin sei im Betrieb des Ehemannes nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Es habe kein entgeltliches Beschäftigungsverhältnis, sondern eine familienhafte Mithilfe unter nahen Verwandten (vgl. zum Begriff: BSG, Urteil vom 23. Juni 1994, Az.: 12 RK 50/93, zitiert nach juris Rn. 17 f.) vorgelegen. Es habe sich nicht um ein von den Vertragsparteien ernsthaft gewolltes und vereinbarungsgemäß durchgeführtes, entgeltliches Beschäftigungsverhältnis unter persönlicher Abhängigkeit der Beschäftigten vom Arbeitgeber gehandelt. Zwar bestünden weder ein grundsätzlicher Ausschluss noch eine gesetzliche Vermutung, dass Beschäftigungsverhältnisse zwischen nahen Verwandten nicht mit sozialversicherungsrechtlichen Wirkungen begründet werden könnten (BSG, Urteil vom 23. Juni 1994 – Az.: 12 RK 50/93, zitiert nach Juris Rn. 17). Allerdings habe die Rechtsprechung zur Abgrenzung der familienhaften Mithilfe von Beschäftigungsverhältnissen zwischen nahen Verwandten Abgrenzungskriterien ausgebildet (vgl. BSGE 3, 30, 40, BSGE 12, 153, 156, BSG, Urteil vom 23. Juni 1994 Az. 12 RK 50/93 zitiert nach Juris Rn. 18). Danach hänge die Abgrenzung zwischen einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis und familienhafter Mithilfe von den gesamten Umständen des Einzelfalls ab. Neben dem Weisungsrecht des Arbeitgebers, einem (angemessenen) Entgelt, einem schriftlichen Arbeitsvertrag und der Lohnsteuerpflicht sei dies insbesondere, dass der Angehörige eine fremde (d.h. nicht familienangehörige) Arbeitskraft ersetzen müsse (BSG, Urteil vom 23. Juni 1994 Az. 12 RK 50/93, zitiert nach Juris Rn. 1 8).
Ein schriftlicher Arbeitsvertrag liege hier ebenso wenig vor, wie ein angemessenes Entgelt für die geleistete Arbeit. Der Vortrag der Klägerin, dass sie wöchentlich mindestens 50 bis 60 Stunden zugunsten der Beigeladenen zu 1. arbeitete sei nach der Befragung der Klägerin und ihres Ehemanns in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar. Die Schilderungen der Klägerin und ihres Ehemanns seien nach Auffassung der Kammer wahrheitsgemäß. Die Klägerin und ihr Ehemann seien glaubwürdig, die Angaben glaubhaft und widerspruchsfrei. Die Klägerin nehme danach insbesondere am Vormittag, wenn ihr Ehemann einen Schulbus fahre, wichtige Aufgaben im Unternehmen alleine und eigenverantwortlich wahr. Die Aufgaben würden in der übrigen Zeit arbeitsteilig auf die Ehegatten verteilt. Die Tätigkeit der Klägerin ende auch nicht, wenn sie sich in die Privaträume der Familie zurückziehe, bspw. um zu kochen, da sie auch in der Wohnung Anrufe von Kunden entgegen nehme oder per Funk Anweisungen an die Taxifahrer gebe. Für diese Tätigkeiten sei das gezahlte Arbeitsentgelt von brutto 550,00 EUR im Monat nicht angemessen. Der Stundenlohn würde nur rund 2,50 EUR betragen.
Zur Überzeugung der Kammer ersetze die Klägerin keine fremde Arbeitskraft. Eine fremde Arbeitskraft hätte nicht zu diesen Bedingungen gearbeitet (vgl. für einen vergleichbaren Sachverhalt LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.12.2007 - L 9 KR 7/05 - juris Rn. 26). Dies ergäbe sich neben dem geringen Verdienst auch aus der räumlichen Verknüpfung von Wohn- und Arbeitsbereich der Familie. Der Taxi- und Busbetrieb bestimme nach den Erkenntnissen der Kammer den gesamten Tagesablauf der Klägerin und ihres Ehemanns. Das Privatleben werde durch die Arbeit überlagert bzw. die Arbeit reiche in das Privatleben hinein. Die Tätigkeit der Klägerin sei geprägt von einer ständigen Erreichbarkeit, insbesondere in ihrer privaten Wohnung.
Als gewichtiges Indiz dafür, dass die Klägerin keine fremde Arbeitskraft ersetze, könne auch angesehen werden, dass selbst unmittelbar vor und nach der Geburt des Sohnes der Klägerin keine fremde Arbeitskraft eingestellt wurde, um die Arbeitsleistung der Klägerin zu kompensieren. Tatsächlich gebe die Klägerin an, sie habe trotz des Kindes "so gut es ging" weitergearbeitet. Gegenüber diesen tatsächlichen Umständen der Arbeitswirklichkeit der Klägerin müssten die formalen Gegebenheiten zurückstehen. Die Kammer könne trotz aller Bedenken hinsichtlich einer so weit zurückreichenden Änderung im Sozialrechtsverhältnis im Nachhinein nicht mehr feststellen, ob der Klägerin wirklich nicht bewusst gewesen sei, welche Voraussetzungen und welche Folgen die Anmeldung zur Sozialversicherung gehabt habe. Ebenfalls nicht aufklärbar sei, warum das Beschäftigungsverhältnis der Klägerin bei durchgeführten Betriebsprüfungen unbeanstandet geblieben sei. Auch die steuerliche Behandlung des Beschäftigungsverhältnisses sei lediglich konsequent gewesen und stelle daher kein erhebliches Indiz dar.
Gegen das ihr am 06.11.2009 zugestellte Urteil hat die Beigeladene zu 1. – die Deutsche Rentenversicherung Bund – mittels Telefaxschreiben am 02.12.2009 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, nach dem Geschehensablauf im Hinblick auf die Tätigkeit der Klägerin, nämlich deren Führung als Arbeitnehmerin mit Lohnsteuerabführung, monatlicher Gehaltsabrechnung, Verbuchung der Entgelte als Betriebsausgabe und nicht als Privatentnahmen sei auf eine abhängige Beschäftigung zu schließen. Bei dieser Sachlage lasse sich auch nicht durch spätere Angaben der Beteiligten, es habe keine Weisungsgebundenheit des mitarbeitenden Familienangehörigen bestanden, auf eine nicht abhängige Tätigkeit schließen.
Die Beigeladene zu 1. und Berufungsklägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 22.10.2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 22.10.2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie schließt sich der Argumentation der Berufungsklägerin an. Die Beigeladenen zu 3. und 4. halten das angefochtene Urteil, ebenso wie die Berufungsklägerin, für fehlerhaft. Sie stellen keine Anträge. Die Beigeladene zu 3. verweist ergänzend auf den Inhalt der von ihr vorgelegten, die Klägerin betreffenden Leistungsakte.
Der Beigeladene zu 2. hat sich am Verfahren nicht beteiligt.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die von der Beklagten und der Beigeladenen zu 3. vorgelegten Verwaltungsakten sowie die Gerichtsakte, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.