Landessozialgericht Hessen 09.12.2010, L 1 KR 187/10

  • Aktenzeichen: L 1 KR 187/10
  • Spruchkörper: 1. Senat
  • Gericht: Hessisches Landessozialgericht
  • Instanzenaktenzeichen: S 12 KR 302/06
  • Instanzgericht: Sozialgericht Kassel
  • Entscheidungstyp: Urteil
  • Entscheidungsdatum: 09.12.2010

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um den Umfang der Versorgung mit häuslicher Krankenpflege.

Die 2000 geborene und 2008 verstorbene Tochter der Kläger, die familienversichertes Mitglied der Beklagten war, erkrankte im August 2003 an einer unklaren Systemerkrankung und litt unter anderem an einem Hypereosinophilie-Syndrom DD mit Lymphozytenregulationsstörung und schwerer erosiver Haut- und Schleimhautbeteiligung, rezidivierenden Sepsitiden, einer passageren Leberfunktionsstörung mit Hypalbuminämie und Ödemen, einer chronischen Expositionskeratopathie bei Lagophthalamus beidseits und einer passageren Magenausgangsstenose. Nach verschiedenen Krankenhausaufenthalten befand sich die Tochter der Kläger seit April 2005 im häuslichen Bereich. Sie war täglich 24 Stunden beatmungspflichtig, katheterisiert und wurde über eine PEG-Sonde ernährt. Aufgrund der häufig erforderlichen Verbandswechsel benötigte die Tochter der Kläger eine spezielle Lagerung, bedarfsabhängig erfolgte ein endotracheales Absaugen zur Freihaltung der oberen Luftwege. Wegen der Beatmungspflege und des Risikos plötzlich auftretender Komplikationen (akut eintretende Ateminsuffizienz) war die kontinuierliche Anwesenheit einer qualifizierten Krankenpflegefachkraft erforderlich. Von der beigeladenen Pflegekasse bezogen die Kläger ab dem 18. April 2005 Pflegegeld nach Pflegestufe II und ab dem 1. Dezember 2006 nach Pflegestufe III, nachdem die Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 13. Juni 2005 einen durchschnittlichen täglichen grundpflegerischen Mehrbedarf der Tochter der Kläger von 206 Minuten und vom 2. November 2006 einen solchen von 239 Minuten ergeben hatten. Sämtliche Maßnahmen der Krankenbeobachtung und der sonstigen medizinischen Behandlungspflege wurden von Fachkräften des Gemeinnützigen Vereins für häusliche Alten- und Krankenpflege C. e.V. durchgeführt. Die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung erfolgten unter der Woche durch die Mutter, die ausgebildete Bürofachkraft ist, und am Wochenende durch den berufstätigen Vater, der den Beruf des Kfz-Mechanikers erlernt hat.

Ab April 2005 übernahm die Beklagte zunächst die Kosten der 24-stündigen Behandlungspflege jeweils für 3 Monate befristet nach Vorlage entsprechender ärztlicher Verordnungen. Mit Bescheid vom 4. September 2006 wies die Beklagte die Kläger darauf hin, dass ab dem 1. Oktober 2006 von der beantragten häuslichen Krankenpflege entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes der Zeitanteil abgezogen werde, der auf die Grundpflege entfalle. Während der Erbringung der Grundpflege trete die Behandlungspflege in den Hintergrund, so dass die Kostenzusage für die häusliche Krankenpflege um täglich 3 Stunden und 26 Minuten zu kürzen sei. Den Widerspruch der Kläger wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23. November 2006 zurück.

Auf den Antrag der Kläger vom 18. Oktober 2006 hat das Sozialgericht Kassel mit Beschluss vom 13. November 2006 der Beklagten im Rahmen eines Verfahrens auf einstweiligen Rechtsschutz aufgegeben, die Tochter der Kläger vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache auf der Grundlage der Verordnung des Kinder- und Jugendarztes D. vom 1. September 2006 über den 30. September 2006 hinaus im Umfang von 24 Stunden täglich mit Beatmungspflege im Rahmen der häuslichen Krankenpflege als Sachleistung auch insoweit zu versorgen, als lediglich eine Überwachung/Beobachtung von Vital- und Beatmungsparametern bzw. der Beatmungstechnik erforderlich sei, wobei deren Notwendigkeit über den 31. Dezember 2006 hinaus alle 3 Monate spätestens 14 Tage vor dem Ende des Kalendervierteljahres durch Vorlage entsprechender ärztlicher Verordnungen gegenüber der Beklagten nachzuweisen sei (Az.: S 12 KR 246/06 ER). Auf die hiergegen erhobene Beschwerde der Beklagten vom 11. Dezember 2006 hat sich die Beklagte im Rahmen eines Vergleiches am 19. Februar 2007 vor dem Hessischen Landessozialgericht verpflichtet, der Tochter der Kläger häusliche Krankenpflege in Form von Behandlungspflege täglich 24 Stunden bis zum Abschluss des Klageverfahrens nach Vorlage entsprechender vertragsärztlicher Verordnungen zu leisten. Die ärztlichen Verordnungen wurden von den Klägern im streitgegenständlichen Zeitraum vorgelegt.

Am 29. November 2006 haben die Kläger gegen den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 23. November 2006 Klage beim Sozialgericht Kassel erhoben. Zur Begründung haben sie darauf hingewiesen, dass durch die Kürzung der Kostenübernahme für die Behandlungspflege eine lückenlose Überwachung ihrer Tochter nicht mehr gewährleistet sei, da die anfallenden Kosten in Höhe von durchschnittlich 3.028,20 EUR monatlich durch sie nicht aufgebracht werden könnten. Sie hätten sich bewusst für die Pflege ihrer Tochter und damit für die Inanspruchnahme von Pflegegeld entschieden. Bei einer Anrechnung von Zeiten der Grundpflege auf die Behandlungspflege werde das gesetzlich vorgesehene Wahlrecht zwischen Geld- und Sachleistungen im Bereich der Pflegeversicherung ausgehebelt. Bei Beatmungspatienten bestehe das Erfordernis einer kontinuierlichen Überwachung durch medizinische Fachkräfte, um bei lebensbedrohlichen Zwischenfällen adäquat reagieren zu können. In diesen Fällen könne man allein aufgrund der Bedeutung der Behandlungspflege für die lebenserhaltenden Funktionen nicht davon sprechen, dass bei der Ausführung der Grundpflege die Behandlungspflege in den Hintergrund trete. Die Beklagte hat im Klageverfahren an ihrer Rechtsauffassung, dass bei der unstreitig zu gewährenden 24 stündigen Behandlungspflege der Zeitaufwand für die Grundpflege zu kürzen sei, festgehalten. Mit Bescheid vom 13. Dezember 2006 habe sie eine weitere Kürzung der Kostenzusage um 3 Stunden und 59 Minuten vorgenommen (MDK-Gutachten vom 2. November 2006). Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 11. Juli 2007 vor dem Sozialgericht Kassel hat sich die Beklagte verpflichtet, die laufenden Leistungen der häuslichen Krankenpflege im Umfang von 24 Stunden täglich bei Vorlage der entsprechenden ärztlichen Verordnungen bis zur Rechtskraft der erstinstanzlichen Entscheidung vorläufig zu gewähren. Mit Urteil vom 11. Juli 2007 hat das Sozialgericht Kassel den Bescheid der Beklagten vom 4. September 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23. November 2006 abgeändert und die Beklagte verpflichtet, die Tochter der Kläger im Zeitraum vom 1. Oktober 2006 bis zum 30. September 2007 im gesetzlichen Umfang über die bisherige vorläufige Leistungserbringung hinaus endgültig von den Kosten der der Tochter der Kläger verordneten 24-stündigen Behandlungspflege freizustellen. Zur Begründung nimmt es im Wesentlichen auf seine Ausführungen im Rahmen des Beschlusses vom 13. November 2006 in dem Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz (Az.: S 12 KR 246/06 ER) Bezug.

Gegen das der Beklagten am 13. Juli 2007 zugestellte Urteil des Sozialgerichtes Kassel hat diese am 25. Juli 2007 Berufung zum Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Zur Begründung führt die Beklagte aus, dass zwar unstreitig aufgrund der Schwere der Erkrankung der Tochter der Kläger eine 24-stündige Behandlungspflege erforderlich gewesen sei. Die Rechtsansicht des Sozialgerichtes, dass diese Behandlungspflege neben der Grundpflege aus der Pflegeversicherung in vollem Umfang zu Lasten der Beklagten beansprucht werden könne, stehe jedoch nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes. Dieses habe bereits in dem so genannten "Drachenfliegerurteil" (Urteil vom 28. Januar 1999, B 3 KR 4/98 R) die Grundsätze aufgestellt, nach denen die Kosten der häuslichen Pflege zwischen der Krankenkasse, der Pflegekasse und dem Versicherten abzugrenzen und aufzuteilen seien. Das Bundessozialgericht gestehe dem Versicherten ein Wahlrecht hinsichtlich der Berücksichtigung von verrichtungsbezogenen Pflegemaßnahmen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege als Behandlungspflege oder im Rahmen der Pflegeleistungen nach der gesetzlichen Pflegeversicherung zu. Dieses Wahlrecht bestehe jedoch nicht für jegliche Maßnahmen, sondern nur für den Sonderfall der Untrennbarkeit der Behandlungs- und Grundpflege, der vorliegend nicht gegeben sei. Zwei Sozialleistungsträger könnten zwar gegenüber demselben Leistungsberechtigten im Vorrang- und Nachrangverhältnis für eine bestimmte Leistung zuständig sein, grundsätzlich aber nicht gleichzeitig und gleichrangig. Bei Bedürftigkeit müsse zudem eine Restfinanzierung der Versorgung der Tochter der Kläger mit den Mitteln der Sozialhilfe erfolgen. Zur Bestätigung ihres Vorbringens hat sie eine Entscheidung des Landessozialgerichtes Baden-Württemberg vom 4. Dezember 2007 (L 11 KR 3761/07) vorgelegt. Eine Kopie des Bescheides vom 13. Dezember 2006 hat die Beklagte trotz Aufforderung des Senats nicht vorlegen können.

Im Zeitraum vom 1. Oktober 2006 bis zum 14. Juli 2008 erfolgte eine tatsächliche Versorgung der Tochter der Kläger mit der verordneten 24-stündigen Behandlungspflege durch die Beklagte.

Der Senat hat mit Beschlüssen vom 21. Oktober 2008 und vom 4. Februar 2009 den Landkreis Kassel – Sozialamt – und die Pflegekasse beigeladen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 11. Juli 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie führen das Verfahren nach dem Tode der Tochter fort und weisen darauf hin, dass die von der Beklagten vorgenommene Anrechnung der Zeiten der Grundpflege auf die Behandlungspflege nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes lediglich für den Fall gelte, in dem ein Pflegedienst sowohl Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) als auch nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch – Soziale Pflegeversicherung – (SGB XI) erbringe, die Leistungen der Grundpflege also nicht von Angehörigen erbracht würden. Bei Beatmungspflegepatienten werde durch die gleichzeitige Ausübung der Grundpflege gerade keine Behandlungspflege unterbrochen. Dies bestätige auch die Entscheidung des Bundessozialgerichtes vom 17. Juni 2010 (B 3 KR 7/09 R). Zur Bestätigung ihres Vorbringens haben die Kläger Pflegedokumentationen des Vereins C. und eine Fotodokumentation des Erkrankungsbildes ihrer Tochter vorgelegt. Ergänzend weisen sie darauf hin, dass sie einen Bescheid vom 13. Dezember 2006 nie erhalten hätten.

Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erteilt und übereinstimmend erklärt, dass davon ausgegangen werde, dass der Bescheid vom 13. Dezember 2006 keine Rechtswirkungen entfalte.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Gerichtsakten Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte im vorliegenden Fall im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben, §§ 124, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet.

Nachdem die Kläger ihren ursprünglich auf Versorgung in einem künftigen Bedarfsfall gerichteten Antrag zurückgenommen haben, ist allein die Rechtmäßigkeit der Versorgung mit häuslicher Krankenpflege im Sinne einer 24-stündigen Behandlungspflege in der Zeit vom 1. Oktober 2006 bis zum 30. September 2007 streitig.

Die Klage ist insoweit zulässig. Richtige Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage nach §§ 54, 55 SGG. Der ursprünglich auf Leistung gerichtete Antrag hat sich insoweit erledigt, als die Tochter der Kläger in dem hier streitigen Zeitraum aufgrund des vor dem Hessischen Landessozialgericht am 19. Februar 2007 abgeschlossenen Vergleichs und des Anerkenntnisses der Beklagten im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 11. Juli 2007 im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes mit einer 24-stündigen Behandlungspflege - vorläufig - versorgt worden ist. Die Kläger haben indes ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass die Beklagte in dem hier streitigen Zeitraum zur Versorgung bzw. zur endgültigen Kostenübernahme verpflichtet gewesen ist, da sie ansonsten aufgrund der nur vorläufigen Leistung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes einem Schadensersatzanspruch der Beklagten ausgesetzt sein könnten (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 945 Zivilprozessordnung - ZPO -; vgl. auch: Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 9. Auflage, YV. 2008, § 86b Rdnr. 49a; Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 15. Januar 2009, L 1 KR 51/05 - juris -). Gegenstand des Verfahrens wäre zudem nach § 96 SGG grundsätzlich der weitere Kürzungsbescheid der Beklagten vom 13. Dezember 2006 geworden. Eine Entscheidung hierüber ist nach der Auffassung des Senats jedoch entbehrlich, da die Beteiligten übereinstimmend davon ausgehen, dass dieser keine Rechtswirkungen entfaltet.

Die Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 4. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. November 2006 ist teilweise rechtswidrig. Die Beklagte war verpflichtet, die Tochter der Kläger in dem streitigen Zeitraum mit einer 24-stündigen Behandlungspflege zu versorgen. Für die Beurteilung des Anspruchs auf Behandlungssicherungspflege als Sachleistung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist für die Zeit ab dem 1. Oktober 2006 § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V in der Fassung des GKV - Modernisierungsgesetzes (GMG) vom 14. November 2003 (BGBl I 2190) - a.F.- zugrunde zu legen. Für die Zeit ab dem 1. April 2007 bemisst sich der Anspruch nach § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V in der Fassung des GKV – Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG) vom 26. März 2007 (BGBl I 378), das am 1. April 2007 in Kraft getreten ist. Für die Beurteilung des Anspruchs ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Versorgung abzustellen. Nach Sinn und Zweck der Anspruchsnormen des Krankenversicherungsrechts, insbesondere § 27 SGB V, ist der Anspruch auf den Zeitpunkt der Erbringung der Leistung zu beziehen (Bundessozialgericht, Urteil vom 25. März 2003 – B 1 KR 17/01 R - juris -).

Versicherte erhalten in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Zieles der ärztlichen Behandlung erforderlich ist; der Anspruch umfasst das Anziehen und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen ab Kompressionsklasse 2 auch in den Fällen, in denen dieser Hilfebedarf bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach den §§ 14 und 15 des Elften Buches zu berücksichtigen ist, § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V a.F. Durch das GKV–WSG ist § 37 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz SGB V insoweit neu gefasst worden, als dass der Anspruch auch verrichtungsbezogene krankenspezifische Pflegemaßnahmen in den Fällen umfasst, in denen dieser Hilfebedarf bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach den §§ 14 und 15 des Elften Buches zu berücksichtigen ist.

Dass die Tochter der Kläger aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung (durchgehende Beatmungsnotwendigkeit mit ständiger Überwachung bei lebensbedrohlichen Atemnotzuständen) im streitgegenständlichen Zeitraum Anspruch auf die Gewährung von häuslicher Krankenpflege im Sinne einer 24-stündigen Behandlungspflege (Beatmungspflege nebst weiterer Behandlungspflege) dem Grunde nach hatte, steht nach der Überzeugung des Senats aufgrund der Gutachten des MDK vom 13. Juni 2005, 5. Oktober 2006 und vom 2. November 2006 fest und ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Die entsprechenden ärztlichen Verordnungen liegen im streitgegenständlichen Zeitraum vor.

Die Notwendigkeit der ständigen Beobachtung eines Versicherten durch eine Fachkraft, um jederzeit medizinisch-pflegerisch eingreifen zu können, wenn es zu Verschlechterungen der Atmungsfunktion und zu Krampfanfällen kommt (lebensbedrohliche Komplikationen von Erkrankungen), ist als behandlungspflichtige Maßnahme zu betrachten (Bundessozialgericht, Urteil vom 10. November 2005, B 3 KR 38/04 R - juris -). Diese war von den Eltern der Klägerin nicht leistbar. Auch dies steht nach der Überzeugung des Senats aufgrund der vorliegenden MDK-Gutachten und der beruflichen Qualifikation der Eltern fest und ist zwischen den Beteiligten unstreitig.

Die Rechtsauffassung der Beklagten, dass von dem zeitlichen Gesamtumfang der erforderlichen Pflege der Zeitaufwand für die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in Abzug zu bringen und sie nur für die Restzeit zur Gewährung der Behandlungspflege verpflichtet sei, kann von dem Senat nicht geteilt werden. Soweit sich diese zur Begründung auf das so genannte "Drachenfliegerurteil" des Bundessozialgerichtes vom 28. Januar 1999 (B 3 KR 4/98 R) bezieht, ist dieses für die Zeit ab dem 1. Januar 2004 vom Bundessozialgericht als durch die Rechtsentwicklung überholt angesehen und aufgegeben worden. Durch das GMG und das GKV-WSG wollte der Gesetzgeber den Anspruch aus § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V auch bei gleichzeitiger Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XI möglichst ungeschmälert erhalten. Versicherte, die häuslicher Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 SGB V bedürfen, sollen diesen Anspruch auch dann in möglichst weitem Umfang wahrnehmen können, wenn sie pflegebedürftig sind und deshalb Leistungen nach dem SGB XI erhalten. Dies entspricht zum einen dem in § 31 SGB XI niedergelegten Grundsatz, dass die medizinische Rehabilitation gegenüber der Pflege Vorrang hat, und zum anderen dem Zweck der Regelungen der sozialen Pflegeversicherung, die Leistungen der GKV zu ergänzen, sie aber prinzipiell nicht - ganz oder teilweise - zu verdrängen. Die Parallelität und Gleichrangigkeit der Ansprüche gegen die Krankenkasse und die Pflegekasse kommt auch in der Vorschrift des § 13 Abs. 2 SGB XI zum Ausdruck, wonach die Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V unberührt bleiben (Bundessozialgericht, Urteil vom 17. Juni 2010, B 3 KR 7/09 R - juris -).

Im Weiteren betrifft nach der Auffassung des Senats die vom Bundessozialgericht entwickelte Kostenaufteilung zwischen Krankenkasse und Pflegekasse lediglich den Fall der gleichzeitigen Erbringung der Leistungen durch dieselbe Fachkraft. Dies ist vorliegend gerade nicht der Fall, da die häusliche Krankenpflege rund um die Uhr als Sachleistung (Pflegefachkraft) in Anspruch genommen wurde und die Grundpflege sowie die hauswirtschaftliche Versorgung durch die Eltern als Angehörige erledigt wurden. In dieser Konstellation ist der der Höhe nach nicht beschränkte Anspruch aus § 37 Abs. 2 SGB V ohne Abzüge zu erfüllen und dem Versicherten steht zusätzlich das volle Pflegegeld nach § 37 SGB XI zu. Der Pflegebedürftige hat in solchen Fällen die freie Wahl zwischen Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI und dem Pflegegeld nach § 37 SGB XI. Er ist insbesondere nicht verpflichtet, mit Rücksicht auf das Wirtschaftlichkeitsgebot Pflegesachleistungen in Anspruch zu nehmen, nur weil er die gleichzeitig erforderliche Behandlungspflege nach § 37 Abs. 2 SGB V als Sachleistung erhält und deshalb eine Fachkraft bereit steht, die auch die Pflegesachleistungen theoretisch - erbringen könnte. Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI wurden und konnten denknotwendigerweise in der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes auch nur dann als gegenüber der Krankenbeobachtung als Sachleistung der GKV vorrangig eingestuft werden, wenn beide Arten der Sachleistung von derselben Pflegekraft gleichzeitig erbracht werden konnten. Scheidet dies aus, weil die Maßnahmen von zwei Personen ausgeübt werden, stehen beide Ansprüche (§ 37 Abs. 2 SGB V einerseits bzw. im vorliegenden Fall § 37 SGB XI andererseits) nach Leistungserbringung und Zuständigkeit getrennt uneingeschränkt nebeneinander (Bundessozialgericht, a.a.O.; Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. März 2008, 1 BvR 2925/07; so auch im Ergebnis: Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 12. November 2008, L 5 B 476/08 KR ER; Landessozialgericht Niedersachsen–Bremen, Urteil vom 20. Januar 2010, L 4 KR 332/07 - juris -). In diesen Fällen ist zudem oftmals die Behandlungspflege (Beatmungspflege nebst weiterer Behandlungspflege) 24 Stunden täglich erforderlich und daneben müssen Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung erbracht werden.

Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die oben ausgeführten Grundsätze auch für den nicht streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Oktober 2007 bis zum 14. Juli 2008 bei einem gleichbleibenden medizinischen Bedarf und dem Vorliegen von weiteren ärztlichen Verordnungen Geltung beanspruchen (vgl. auch: Bundessozialgericht, Urteil vom 10. November 2005, B 3 KR 38/04 R zur Frage der zukünftigen Leistungsgewährung).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen gemäß § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

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