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Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte im vorliegenden Fall im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben, §§ 124, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet.

Nachdem die Kläger ihren ursprünglich auf Versorgung in einem künftigen Bedarfsfall gerichteten Antrag zurückgenommen haben, ist allein die Rechtmäßigkeit der Versorgung mit häuslicher Krankenpflege im Sinne einer 24-stündigen Behandlungspflege in der Zeit vom 1. Oktober 2006 bis zum 30. September 2007 streitig.

Die Klage ist insoweit zulässig. Richtige Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage nach §§ 54, 55 SGG. Der ursprünglich auf Leistung gerichtete Antrag hat sich insoweit erledigt, als die Tochter der Kläger in dem hier streitigen Zeitraum aufgrund des vor dem Hessischen Landessozialgericht am 19. Februar 2007 abgeschlossenen Vergleichs und des Anerkenntnisses der Beklagten im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 11. Juli 2007 im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes mit einer 24-stündigen Behandlungspflege - vorläufig - versorgt worden ist. Die Kläger haben indes ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass die Beklagte in dem hier streitigen Zeitraum zur Versorgung bzw. zur endgültigen Kostenübernahme verpflichtet gewesen ist, da sie ansonsten aufgrund der nur vorläufigen Leistung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes einem Schadensersatzanspruch der Beklagten ausgesetzt sein könnten (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 945 Zivilprozessordnung - ZPO -; vgl. auch: Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 9. Auflage, YV. 2008, § 86b Rdnr. 49a; Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 15. Januar 2009, L 1 KR 51/05 - juris -). Gegenstand des Verfahrens wäre zudem nach § 96 SGG grundsätzlich der weitere Kürzungsbescheid der Beklagten vom 13. Dezember 2006 geworden. Eine Entscheidung hierüber ist nach der Auffassung des Senats jedoch entbehrlich, da die Beteiligten übereinstimmend davon ausgehen, dass dieser keine Rechtswirkungen entfaltet.

Die Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 4. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. November 2006 ist teilweise rechtswidrig. Die Beklagte war verpflichtet, die Tochter der Kläger in dem streitigen Zeitraum mit einer 24-stündigen Behandlungspflege zu versorgen. Für die Beurteilung des Anspruchs auf Behandlungssicherungspflege als Sachleistung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist für die Zeit ab dem 1. Oktober 2006 § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V in der Fassung des GKV - Modernisierungsgesetzes (GMG) vom 14. November 2003 (BGBl I 2190) - a.F.- zugrunde zu legen. Für die Zeit ab dem 1. April 2007 bemisst sich der Anspruch nach § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V in der Fassung des GKV – Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG) vom 26. März 2007 (BGBl I 378), das am 1. April 2007 in Kraft getreten ist. Für die Beurteilung des Anspruchs ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Versorgung abzustellen. Nach Sinn und Zweck der Anspruchsnormen des Krankenversicherungsrechts, insbesondere § 27 SGB V, ist der Anspruch auf den Zeitpunkt der Erbringung der Leistung zu beziehen (Bundessozialgericht, Urteil vom 25. März 2003 – B 1 KR 17/01 R - juris -).

Versicherte erhalten in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Zieles der ärztlichen Behandlung erforderlich ist; der Anspruch umfasst das Anziehen und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen ab Kompressionsklasse 2 auch in den Fällen, in denen dieser Hilfebedarf bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach den §§ 14 und 15 des Elften Buches zu berücksichtigen ist, § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V a.F. Durch das GKV–WSG ist § 37 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz SGB V insoweit neu gefasst worden, als dass der Anspruch auch verrichtungsbezogene krankenspezifische Pflegemaßnahmen in den Fällen umfasst, in denen dieser Hilfebedarf bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach den §§ 14 und 15 des Elften Buches zu berücksichtigen ist.

Dass die Tochter der Kläger aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung (durchgehende Beatmungsnotwendigkeit mit ständiger Überwachung bei lebensbedrohlichen Atemnotzuständen) im streitgegenständlichen Zeitraum Anspruch auf die Gewährung von häuslicher Krankenpflege im Sinne einer 24-stündigen Behandlungspflege (Beatmungspflege nebst weiterer Behandlungspflege) dem Grunde nach hatte, steht nach der Überzeugung des Senats aufgrund der Gutachten des MDK vom 13. Juni 2005, 5. Oktober 2006 und vom 2. November 2006 fest und ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Die entsprechenden ärztlichen Verordnungen liegen im streitgegenständlichen Zeitraum vor.

Die Notwendigkeit der ständigen Beobachtung eines Versicherten durch eine Fachkraft, um jederzeit medizinisch-pflegerisch eingreifen zu können, wenn es zu Verschlechterungen der Atmungsfunktion und zu Krampfanfällen kommt (lebensbedrohliche Komplikationen von Erkrankungen), ist als behandlungspflichtige Maßnahme zu betrachten (Bundessozialgericht, Urteil vom 10. November 2005, B 3 KR 38/04 R - juris -). Diese war von den Eltern der Klägerin nicht leistbar. Auch dies steht nach der Überzeugung des Senats aufgrund der vorliegenden MDK-Gutachten und der beruflichen Qualifikation der Eltern fest und ist zwischen den Beteiligten unstreitig.

Die Rechtsauffassung der Beklagten, dass von dem zeitlichen Gesamtumfang der erforderlichen Pflege der Zeitaufwand für die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in Abzug zu bringen und sie nur für die Restzeit zur Gewährung der Behandlungspflege verpflichtet sei, kann von dem Senat nicht geteilt werden. Soweit sich diese zur Begründung auf das so genannte "Drachenfliegerurteil" des Bundessozialgerichtes vom 28. Januar 1999 (B 3 KR 4/98 R) bezieht, ist dieses für die Zeit ab dem 1. Januar 2004 vom Bundessozialgericht als durch die Rechtsentwicklung überholt angesehen und aufgegeben worden. Durch das GMG und das GKV-WSG wollte der Gesetzgeber den Anspruch aus § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V auch bei gleichzeitiger Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XI möglichst ungeschmälert erhalten. Versicherte, die häuslicher Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 SGB V bedürfen, sollen diesen Anspruch auch dann in möglichst weitem Umfang wahrnehmen können, wenn sie pflegebedürftig sind und deshalb Leistungen nach dem SGB XI erhalten. Dies entspricht zum einen dem in § 31 SGB XI niedergelegten Grundsatz, dass die medizinische Rehabilitation gegenüber der Pflege Vorrang hat, und zum anderen dem Zweck der Regelungen der sozialen Pflegeversicherung, die Leistungen der GKV zu ergänzen, sie aber prinzipiell nicht - ganz oder teilweise - zu verdrängen. Die Parallelität und Gleichrangigkeit der Ansprüche gegen die Krankenkasse und die Pflegekasse kommt auch in der Vorschrift des § 13 Abs. 2 SGB XI zum Ausdruck, wonach die Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V unberührt bleiben (Bundessozialgericht, Urteil vom 17. Juni 2010, B 3 KR 7/09 R - juris -).

Im Weiteren betrifft nach der Auffassung des Senats die vom Bundessozialgericht entwickelte Kostenaufteilung zwischen Krankenkasse und Pflegekasse lediglich den Fall der gleichzeitigen Erbringung der Leistungen durch dieselbe Fachkraft. Dies ist vorliegend gerade nicht der Fall, da die häusliche Krankenpflege rund um die Uhr als Sachleistung (Pflegefachkraft) in Anspruch genommen wurde und die Grundpflege sowie die hauswirtschaftliche Versorgung durch die Eltern als Angehörige erledigt wurden. In dieser Konstellation ist der der Höhe nach nicht beschränkte Anspruch aus § 37 Abs. 2 SGB V ohne Abzüge zu erfüllen und dem Versicherten steht zusätzlich das volle Pflegegeld nach § 37 SGB XI zu. Der Pflegebedürftige hat in solchen Fällen die freie Wahl zwischen Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI und dem Pflegegeld nach § 37 SGB XI. Er ist insbesondere nicht verpflichtet, mit Rücksicht auf das Wirtschaftlichkeitsgebot Pflegesachleistungen in Anspruch zu nehmen, nur weil er die gleichzeitig erforderliche Behandlungspflege nach § 37 Abs. 2 SGB V als Sachleistung erhält und deshalb eine Fachkraft bereit steht, die auch die Pflegesachleistungen theoretisch - erbringen könnte. Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI wurden und konnten denknotwendigerweise in der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes auch nur dann als gegenüber der Krankenbeobachtung als Sachleistung der GKV vorrangig eingestuft werden, wenn beide Arten der Sachleistung von derselben Pflegekraft gleichzeitig erbracht werden konnten. Scheidet dies aus, weil die Maßnahmen von zwei Personen ausgeübt werden, stehen beide Ansprüche (§ 37 Abs. 2 SGB V einerseits bzw. im vorliegenden Fall § 37 SGB XI andererseits) nach Leistungserbringung und Zuständigkeit getrennt uneingeschränkt nebeneinander (Bundessozialgericht, a.a.O.; Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. März 2008, 1 BvR 2925/07; so auch im Ergebnis: Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 12. November 2008, L 5 B 476/08 KR ER; Landessozialgericht Niedersachsen–Bremen, Urteil vom 20. Januar 2010, L 4 KR 332/07 - juris -). In diesen Fällen ist zudem oftmals die Behandlungspflege (Beatmungspflege nebst weiterer Behandlungspflege) 24 Stunden täglich erforderlich und daneben müssen Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung erbracht werden.

Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die oben ausgeführten Grundsätze auch für den nicht streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Oktober 2007 bis zum 14. Juli 2008 bei einem gleichbleibenden medizinischen Bedarf und dem Vorliegen von weiteren ärztlichen Verordnungen Geltung beanspruchen (vgl. auch: Bundessozialgericht, Urteil vom 10. November 2005, B 3 KR 38/04 R zur Frage der zukünftigen Leistungsgewährung).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen gemäß § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

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