Landessozialgericht Hessen 10.06.2010, L 8 KR 314/09
- Spruchkörper: 8. Senat
- Aktenzeichen: L 8 KR 314/09
- Instanzenaktenzeichen: S 18 KR 19/00
- Instanzgericht: Sozialgericht Darmstadt
- Gericht: Hessisches Landessozialgericht
- Entscheidungstyp: Urteil
- Entscheidungsdatum: 10.06.2010
- Rechtskraft: rechtskräftig
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten für eine durchgeführte Behandlung einer Stammveneninsuffizienz mittels des X.-Closure®-Verfahrens (Verödung von Krampfadern mittels eines Hochfrequenz-Katheters, der Wärmeenergie abgibt und hierdurch zu einem Verschluss der Vene führt).
Der geborene, bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger hatte 1990 und 1995 einen Myocardinfarkt erlitten, der u.a. durch Anlegung von Herzbypässen behandelt worden war. Bei ihm besteht weiter eine chronische vernöse Insuffizienz mit Stamm- und Seitenastkrampfadern am linken Bein. Er begab sich deswegen in die C. Praxisklinik des Gefäßchirurgen und Phlebologen Dr. D. D. und Kolleginnen. Dort wurde eine chronisch venöse Insuffizienz Widmer-Stadium 2 sowie eine Stamm- und Seitenastvaricosis der Vena saphena magna KY. 3 links diagnostiziert und ein Ausschalten der betroffenen Venen am linken Bein mittels der X.-Closure®-Methode empfohlen (Arztbrief der C. Praxisklinik, Dr. D. vom 2.9.2008 sowie Aufklärungsmaterial zur Verödung von Krampfadern am Bein mittels Radiofrequenzverfahren). Von dem klassischen Verfahren der Behandlung von Krampfadern in Form des sog. Crossektomierens und Strippens war dem Kläger von Dr. D. unter Hinweis auf sein Herzleiden und die Medikation mit ASS abgeraten worden. Am 8.9.2008 beantragte der Kläger im Rahmen einer persönlichen Vorsprache in der Geschäftsstelle der Beklagten die Übernahme der Kosten für eine X.-Closure®-Behandlung unter Vorlage des Arztbriefes des Dr. D. und des Aufklärungsmaterials zu diesem Verfahren. Die Beklagte holte eine Stellungnahme nach Aktenlage des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ein, die der Arzt Dr. E. unter dem Datum vom 16.9.2008 nach Aktenlage erstellte. Dr. E. führte in seiner schriftlichen Stellungnahme aus, nach wie vor sei die operative Sanierung der Varicose mittels Strippingoperation als Goldstandard anzusehen. Bei dem Closure-Verfahren handele es sich um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode, zu der der Gemeinsame Bundesausschuss nach § 135 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) bislang keine positive Bewertung abgegeben habe und die damit nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen gehöre. Gestützt auf diese Stellungnahme lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 19.9.2008 den Antrag des Klägers ab. Die Closure-Behandlung gehöre nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung, da der Gemeinsame Bundesausschuss diese Methode noch nicht beurteilt und bewertet habe.
Am 21.10.2008 ließ sich der Kläger von Dr. D. ambulant mit dem X.-Verfahren behandeln, wobei die Vena saphena magna links im Wege der Radiofrequenzablation (X.-Verfahren) ausgeschaltet wurde (Operationsbericht vom 21.10.2008, Entlassungsbericht der C. Praxisklinik vom 21.10.2008). Für diese Behandlung stellte ihm die C. Praxisklinik insgesamt einen Betrag von 1.339,80 EUR in Rechnung unter Anwendung der Gebührenordnung für ärztliche Leistungen im Rahmen von Privatbehandlungen.
Am 27.10.2008 erhob der Kläger gegen den Ablehnungsbescheid der Beklagten Widerspruch und führte aus, die konventionelle Behandlung seiner Varicosiserkrankung sei für ihn nicht in Betracht gekommen, da er wegen seiner Herzerkrankungen für jeglichen Eingriff unter Vollnarkose ein Hochrisikopatient sei und bei der klassischen Crossektomie mit Venenstripping seine Dauermedikation mit ASS unterbrochen hätte werden müssen. Er legte den Operationsbericht und den Entlassungsbericht der C. Praxisklinik, sowie ein von Dr. D. an ihn gerichtetes Schreiben vom 7.10.2008 zu den Gründen, weshalb ihm das Closure-Verfahen der Firma X. empfohlen werde, bei, weiter ein Attest des behandelnden Hausarztes Dr. F. vom 14.10.2008. Darin heißt es, bei dem fortgeschrittenen Alter und dem Herzleiden des Klägers sollte nach Möglichkeit ein schonender Eingriff zur Behandlung der Varicosis ohne Vollnarkose durchgeführt werden. Die Beklagte legte diese Unterlagen erneu dem MDK vor, für den Dr. G. unter dem 3.11.2008 eine schriftliche Stellungnahme nach Aktenlage erstellte. Darin heißt es, im Vergleich zu den MDK-Vorgutachten ergäben sich keine neuen Erkenntnisse. Bei dem X.-Closure®-Verfahren handle es sich um eine neue Behandlungsmethode, für die Langzeitergebnisse fehlten und eine Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht vorliege. Aus den ärztlichen Befundberichten sei ersichtlich, dass eine Notwendigkeit für eine operative Behandlung des Venenleidens des Klägers bestanden habe. Hierfür habe aber die klassische Crossektomie mit Venenstripping zur Verfügung gestanden. Hinsichtlich des Vorbringens des Klägers zu seiner Hochrisikosituation im Zusammenhang mit einer Vollnarkose sei darauf hinzuweisen, dass eine zwingende Notwendigkeit für eine Vollnarkose anhand der Unterlagen nicht gesehen werden könne. Prinzipiell sei auch eine Spinalanästhesie denkbar. Ggf. seien die vertragsärztlich zur Verfügung stehenden Maßnahmen unter stationären Bedingungen durchführbar. Die Behandlung des Klägers mit Aspirin müsse bei Anwendung der konventionellen Methoden allerdings unterbrochen werden. Mit Widerspruchsbescheid vom 13.01.2009 wies die Beklagte den vom Kläger aufrecht erhaltenen Widerspruch, gestützt auf das Gutachten des MDK, als unbegründet zurück. Da der Gemeinsame Bundesausschuss für die X.-Closure®-Behandlung noch keine positive Empfehlung ausgesprochen habe, dürften die gesetzlichen Krankenkassen hierfür entstandene Behandlungskosten nicht übernehmen. Auch nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6.12.2005 komme eine Leistungsübernahme nicht in Betracht, da es sich bei dem Krankheitsbild des Klägers nicht um eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung handele.
Hiergegen erhob der Kläger am 26.01.2009 Klage zum Sozialgericht Darmstadt und legte ärztliche Unterlagen aus den Jahren 1995 bis 2006 betreffend sein Herzleiden und seine Bypassoperationen sowie einen an ihn gerichteten Arztbrief des Dr. D. vom 5.4.2009 vor, in dem die Gründe, die nach Ansicht des Dr. D. für die Anwendung des X.-Closure®-Verfahrens im Falle des Klägers sprechen, dargelegt werden. Der Kläger trug vor, eine Behandlung seines Venenleidens unter Vollnarkose wäre für ihn lebensgefährlich gewesen.
Das Gericht holte eine Stellungnahme des Gemeinsamen Bundesausschusses, erstellt von der Geschäftsführung des Unterausschusses Methodenbewertung, vom 3.6.2009 ein. Darin wird ausgeführt, die X.-Closure®-Methode sei bisher weder im Gemeinsamen Bundesausschuss noch im vormals zuständigen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen überprüft worden. Es sei bisher kein Antrag zur Prüfung dieser Methode als einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode der antragsberechtigten Organisationen entsprechend den Vorgaben des § 135 Abs. 1 SGB V sowie der seit 2003 in Kraft getretenen Patientenbeteiligungsverordnung gestellt worden. Der Geschäftsführung dieses Unterausschusses lägen auch keine Informationen vor, die nahelegten, dass es sich hier um eine medizinische Methode handele, die die für die vertragsärztliche Versorgung gesetzlich vorgegebenen Kriterien "diagnostischer oder therapeutischer Nutzen" "medizinische Notwendigkeit" und "Wirtschaftlichkeit" erfüllen würden.
Das Sozialgericht wies die Klage mit Gerichtsbescheid vom 19.10.2009 ab. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Übernahme der beantragten Behandlungskosten. Als Anspruchsgrundlage komme nur § 13 Abs. 3 SGB V in Betracht, dessen Voraussetzungen aber nicht erfüllt seien. Der Anspruch auf Kostenerstattung gehe nicht weiter, als der Sachleistungsanspruch, den er ersetze. Dürfe der Arzt eine Behandlungsmethode nicht als Kassenleistung abrechnen, weil sie nach den Richtlinien des Bundesausschusses ausgeschlossen oder nicht empfohlen sei, gehöre sie auch nicht zur Behandlung i.S.v. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V, die Versicherte als Sachleistung oder im Wege der Kostenerstattung beanspruchen könnten. Nach § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V könnten neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur abgerechnet werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss nach § 91 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 SGB V (früher: Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen) in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V Empfehlungen u.a. über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode abgegeben habe. Neu sei dabei jede Behandlungsmethode, die bisher noch nicht Gegenstand der vertragsärztlichen Versorgung sei. Der Gesetzgeber mache damit den Einsatz neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden von einer vorherigen Anerkennung durch den Bundesausschuss abhängig. Dies diene der Sicherung der Qualität der Leistungserbringung zum Schutze der Versichertengemeinschaft vor Unwirtschaftlichkeit und der Versicherten vor unerprobten Methoden. Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden seien so lange von der Abrechnung zu Lasten der Krankenkassen ausgeschlossen, bis der Bundesausschuss sie als zweckmäßig anerkannt habe. Der Einwand des einzelnen Versicherten, eine nicht empfohlene Behandlungsmethode sei gleichwohl zweckmäßig und in seinem konkreten Fall wirksam, sei nicht beachtlich. Ausweislich der Auskunft des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 3.6.2009 handele es sich bei der vom Kläger gewählten Closure®-Behandlung seiner Krampfadern um eine neue Behandlungsmethode i.S.d. § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Eine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses liege hierfür nicht vor. Damit scheide eine Kostenerstattung aus. Hinweise auf ein sog. Systemversagen, also ein nicht vom System vorgesehenes Unterbleiben einer Entscheidung des gemeinsamen Bundesausschusses, sei nicht erkennbar. Das gefundene Ergebnis sei auch im Hinblick auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 6.12.2005 (1 BvR 347/98) nicht zu modifizieren. Zwar sei die Ausschlusswirkung des § 135 SGB V im Lichte des Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz und des Sozialstaatsprinzips zu relativieren. Dies gelte jedoch nur für lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankungen, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung stehe. Im vorliegenden Falle handele es sich nicht um eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung i.S.d. Unmittelbarkeit, die bei der Interpretation der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu fordern sei. Abzustellen sei insoweit im Gegensatz zur Argumentation des Klägers nicht auf die Herzerkrankungen, die zu den Infarkten geführt hatten, sondern auf das Krampfaderleiden. Eine unmittelbare Todesgefahr erzeuge diese Erkrankung nicht.
Gegen den ihm am 22.10.2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 16.11.2009 Berufung eingelegt. Er wiederholt und vertieft sein Vorbringen aus dem Verwaltungs- und erstinstanzlichen Gerichtsverfahren. Insbesondere trägt er vor, zur Behandlung seiner Krampfadern mittels des herkömmlichen Verfahrens der Crossektomie und des Venenstrippings sei eine Vollnarkose sowie ein Aussetzen seiner Dauermedikation mit ASS notwendig gewesen, was für ihn lebensbedrohlich gewesen wäre. Diesbezüglich legt der Kläger noch einen Arztbrief der chirurgisch-orthopädischen Fachklinik H. vom 7.6.2010 vor, aus dem sich ergibt, dass er vor 18 Tagen durch einen Sturz auf den Rücken eine subakute traumatisch bedingte Fraktur des 12. Brustwirbelkörpers erlitten habe und stationär zur Kyphoplasie aufgenommen worden sei. In diesem Arztbrief heißt es, der Kläger sei von der Anästhesie aufgrund der Herzvorgeschichte und hohen Operationsrisikos erstmals abgesetzt worden. Der Kläger führt insoweit aus, dieses Dokument belege, dass für ihn jegliche Operation mit Vollnarkose lebensbedrohlich sei, was auch für die streitige Krampfaderoperation gegolten habe.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Darmstadt vom 19.10.2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19.09.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.01.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm die Kosten für das Closure®-X.-Verfahren in Höhe von 1.339,80 EUR zu erstatten,
hilfsweise,
die Einholung eines Sachverständigengutachtens.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Der Senat hat mit Beschluss der Berufsrichter vom 16.03.2010 die Entscheidung über die Berufung des Klägers auf den Berichterstatter übertragen. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Gerichts- und Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.