Landessozialgericht Hessen 09.12.2010, L 1 KR 189/10

  • Aktenzeichen: L 1 KR 189/10
  • Spruchkörper: 1. Senat
  • Instanzenaktenzeichen: S 12 KR 70/07
  • Instanzgericht: Sozialgericht Kassel
  • Gericht: Hessisches Landessozialgericht
  • Entscheidungstyp: Urteil
  • Entscheidungsdatum: 09.12.2010

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um den Umfang der Versorgung mit häuslicher Krankenpflege.

Die 1999 geborene Klägerin leidet u.a. an einer schweren Mehrfachbehinderung durch Trisomie 21, Enzephalopathie und Densfraktur mit hohem Querschnitt, einer respiratorischen Insuffizienz, einem Ernährungsproblem bei Schluckstörung und neurogenen Miktionsstörungen und Ostipation. Sie ist täglich 24 Stunden beatmungspflichtig und wird über eine PEG-Sonde ernährt. Die Klägerin benötigt u.a. zweimal täglich eine intensive Atemtherapie zur Pneumonieprophylaxe bei Neigung zum Sekretverhalt und ein bedarfsabhängiges Absaugen über die Trachealkanüle, um die oberen Luftwege freizuhalten. Im Weiteren ist eine mehrfache tägliche Lagerung und Durchmobilisierung aller Gelenke bei Tetraspastik notwendig. Allein wegen der Beatmungspflege und des Risikos plötzlich auftretender Komplikationen (akut eintretende vitale Ateminsuffizienz) ist die kontinuierliche Anwesenheit einer qualifizierten Krankenpflegefachkraft erforderlich. Von der beigeladenen Pflegekasse beziehen die Eltern der Klägerin seit dem 15. Juli 2000 Pflegegeld nach Pflegestufe III, nachdem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung – MDK – (zuletzt vom 24. August 2005 bzw. 1. Februar 2007) einen durchschnittlichen täglichen grundpflegerischen Mehrbedarf der Klägerin von 303 Minuten ergeben hatten. Sämtliche Maßnahmen der Krankenbeobachtung und der sonstigen medizinischen Behandlungspflege wurden zunächst von Fachkräften der Diakoniestation B-Stadt durchgeführt und werden im Anschluss daran nun von Fachkräften des Gemeinnützigen Vereins für häusliche Alten- und Krankenpflege Pflege – Hilfe & Betreuung e.V. wahrgenommen. Die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung erfolgt durch die Mutter der Klägerin, die den Beruf der Hauswirtschafterin erlernt hat, und den Vater, der von Beruf Werkzeugmacher ist.

Ab Februar 2006 übernahm die Beklagte zunächst die Kosten der 24-stündigen Behandlungspflege jeweils für drei Monate befristet nach Vorlage entsprechender ärztlicher Verordnungen. Mit Bescheid vom 4. September 2006 wies die Beklagte die Eltern der Klägerin darauf hin, dass ab dem 1. Oktober 2006 von der beantragten häuslichen Krankenpflege entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts der Zeitanteil abgezogen werde, der auf die Grundpflege entfalle. Während der Erbringung der Grundpflege trete die Behandlungspflege in den Hintergrund, so dass die Kostenzusage für die häusliche Krankenpflege um täglich 5 Stunden und 3 Minuten zu kürzen sei. Den Widerspruch der Eltern der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 2007 zurück.

Auf den Antrag der Eltern der Klägerin vom 18. Oktober 2006 hat das Sozialgericht Kassel der Beklagten im Rahmen eines Verfahrens auf einstweiligen Rechtsschutz mit Beschluss vom 13. November 2006 aufgegeben, die Klägerin vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache auf der Grundlage der Verordnung der Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin C. vom 25. September 2006 über den 30. September 2006 hinaus im Umfang von 24 Stunden täglich mit Beatmungspflege im Rahmen der häuslichen Krankenpflege als Sachleistung auch insoweit zu versorgen, als lediglich eine Überwachung/Beobachtung von Vital- und Beatmungsparametern bzw. der Beatmungstechnik erforderlich sei, wobei deren Notwendigkeit über den 31. Dezember 2006 hinaus alle drei Monate spätestens 14 Tage vor dem Ende des Kalendervierteljahres durch Vorlage entsprechender ärztlicher Verordnungen gegenüber der Beklagten nachzuweisen sei (Az.: S 12 KR 247/06 ER). Auf die hiergegen erhobene Beschwerde der Beklagten vom 12. Dezember 2006 hat sich die Beklagte im Rahmen eines Vergleichs am 16. Januar 2007 vor dem Hessischen Landessozialgericht verpflichtet, der Klägerin häusliche Krankenpflege in Form von Behandlungspflege täglich 24 Stunden bis zum 31. März 2007, höchstens bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens, nach Vorlage entsprechender vertragsärztlicher Verordnungen zu leisten.

Auf den Antrag der Eltern der Klägerin vom 27. Februar 2007 hat das Sozialgericht Kassel mit Beschluss vom 21. März 2007 der Beklagten im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens erneut eine vorläufige Versorgung der Klägerin mit Beatmungspflege bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache aufgegeben (Az.: S 12 KR 69/07 ER). Auf die hiergegen erhobene Beschwerde der Beklagten vom 2. April 2007 hat das Hessische Landessozialgericht mit Beschluss vom 2. Mai 2007 die Beklagte unter Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts Kassel vom 21. März 2007 verpflichtet, die Klägerin mit Beatmungspflege als Behandlungspflege nach Maßgabe des erstinstanzlichen Beschlusses bis zum Abschluss des Klageverfahrens zu versorgen. Die ärztlichen Verordnungen wurden von den Eltern der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum vorgelegt.

Am 27. Februar 2007 haben die Eltern der Klägerin gegen den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 21. Februar 2007 Klage beim Sozialgericht Kassel erhoben. Zur Begründung haben sie darauf hingewiesen, dass durch die Kürzung der Kostenübernahme für die Behandlungspflege eine lückenlose Überwachung der Klägerin nicht mehr gewährleistet sei, da die anfallenden Kosten in Höhe von durchschnittlich 3.958,80 EUR monatlich durch sie nicht aufgebracht werden könnten. Sie hätten sich bewusst für die Pflege ihrer Tochter und damit für die Inanspruchnahme von Pflegegeld entschieden. Bei einer Anrechnung von Zeiten der Grundpflege auf die Behandlungspflege werde das gesetzlich vorgesehene Wahlrecht zwischen Geld- und Sachleistungen im Bereich der Pflegeversicherung ausgehebelt. Bei Beatmungspatienten bestehe das Erfordernis einer kontinuierlichen Überwachung durch medizinische Fachkräfte, um bei lebensbedrohlichen Zwischenfällen adäquat reagieren zu können. In diesen Fällen könne man allein aufgrund der Bedeutung der Behandlungspflege für die lebenserhaltenden Funktionen nicht davon sprechen, dass bei der Ausführung der Grundpflege die Behandlungspflege in den Hintergrund trete. Zur Bestätigung ihres Vorbringens haben sie Pflegeprotokolle von April 2007 bis Juni 2007 und einen Arztbrief von Dr. D. aus dem Kinderkrankenhaus E. vom 14. Juni 2007 vorgelegt. Die Beklagte hat im Klageverfahren an ihrer Rechtsauffassung, dass bei der unstreitig zu gewährenden 24-stündigen Behandlungspflege der Zeitaufwand für die Grundpflege zu kürzen sei, festgehalten. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Kassel vom 11. Juli 2007 hat sich die Beklagte verpflichtet, die laufenden Leistungen der häuslichen Krankenpflege im Umfang von 24 Stunden bei Vorlage der entsprechenden ärztlichen Verordnungen bis zur Rechtskraft der erstinstanzlichen Entscheidung vorläufig zu gewähren. Mit Urteil vom 11. Juli 2007 hat das Sozialgericht Kassel den Bescheid der Beklagten vom 4. September 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21. Februar 2007 abgeändert und die Beklagte verpflichtet, die Klägerin im Zeitraum vom 1. Oktober 2006 bis zum 30. September 2007 im gesetzlichen Umfang über die bisherige vorläufige Leistungserbringung hinaus endgültig von den Kosten der der Klägerin verordneten 24-stündigen Behandlungspflege freizustellen. Zur Begründung nimmt es im Wesentlichen auf seine Ausführungen im Rahmen der Beschlüsse vom 13. November 2006 und vom 21. März 2007 in den Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz (Az.: S 12 KR 247/06 ER und S 12 KR 69/07 ER) Bezug.

Gegen das der Beklagten am 13. Juli 2007 zugestellte Urteil des Sozialgerichtes Kassel hat diese am 24. Juli 2007 Berufung zum Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Zur Begründung führt die Beklagte aus, dass zwar unstreitig aufgrund der Schwere der Erkrankung der Klägerin eine 24-stündige Behandlungspflege erforderlich sei. Die Rechtsansicht des Sozialgerichtes, dass diese Behandlungspflege neben der Grundpflege aus der Pflegeversicherung in vollem Umfang zu Lasten der Beklagten beansprucht werden könne, stehe jedoch nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes. Dieses habe bereits in dem so genannten Drachenfliegerurteil (Urteil vom 28. Januar 1999, B 3 KR 4/98 R) die Grundsätze aufgestellt, nach denen die Kosten der häuslichen Pflege zwischen der Krankenkasse, der Pflegekasse und dem Versicherten abzugrenzen und aufzuteilen seien. Das Bundessozialgericht gestehe dem Versicherten ein Wahlrecht hinsichtlich der Berücksichtigung von verrichtungsbezogenen Pflegemaßnahmen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege als Behandlungspflege oder im Rahmen der Pflegeleistungen nach der gesetzlichen Pflegeversicherung zu. Dieses Wahlrecht bestehe jedoch nicht für jegliche Maßnahmen, sondern nur für den Sonderfall der Untrennbarkeit der Behandlungs- und Grundpflege, der vorliegend nicht gegeben sei. Zwei Sozialleistungsträger könnten zwar gegenüber demselben Leistungsberechtigten im Vorrang- und Nachrangverhältnis für eine bestimmte Leistung zuständig sein, grundsätzlich aber nicht gleichzeitig und gleichrangig. Bei Bedürftigkeit müsse zudem eine Restfinanzierung der Versorgung der Klägerin mit den Mitteln der Sozialhilfe erfolgen. Zur Bestätigung ihres Vorbringens hat sie eine Entscheidung des Landessozialgerichtes Baden-Württemberg vom 4. Dezember 2007 (L 11 KR 3761/07) vorgelegt.

In dem Zeitraum ab dem 1. Oktober 2006 erfolgte eine tatsächliche Versorgung der Klägerin mit der verordneten 24-stündigen Behandlungspflege durch die Beklagte.

Der Senat hat mit Beschluss vom 7. Oktober 2010 die Pflegekasse beigeladen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichtes Kassel vom 11. Juli 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Eltern der Klägerin beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie weisen darauf hin, dass die von der Beklagten vorgenommene Anrechnung der Zeiten der Grundpflege auf die Behandlungspflege nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes lediglich für den Fall gelte, in dem ein Pflegedienst sowohl Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) als auch nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch Soziale Pflegeversicherung – (SGB XI) erbringe, die Leistungen der Grundpflege also nicht von Angehörigen erbracht würden. Bei Beatmungspflegepatienten werde durch die gleichzeitige Ausübung der Grundpflege gerade keine Behandlungspflege unterbrochen. Dies bestätige auch die Entscheidung des Bundessozialgerichtes vom 17. Juni 2010 (B 3 KR 7/09 R).

Die Beigeladene hat keine Anträge gestellt.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erteilt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Gerichtsakten Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung gewesen sind.

Der Senat konnte im vorliegenden Fall im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben, §§ 124, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet.

Nachdem die Klägerin ihren ursprünglich auf Versorgung in einem künftigen Bedarfsfall gerichteten Antrag zurückgenommen hat, ist allein die Rechtmäßigkeit der Versorgung mit häuslicher Krankenpflege im Sinne einer 24-stündigen Behandlungspflege in der Zeit vom 1. Oktober 2006 bis zum 30. September 2007 streitig.

Die Klage ist insoweit zulässig. Richtige Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage nach §§ 54, 55 SGG. Der ursprünglich auf Leistung gerichtete Antrag hat sich insoweit erledigt, als die Klägerin in dem hier streitigen Zeitraum aufgrund des vor dem Hessischen Landessozialgericht am 16. Januar 2007 abgeschlossenen Vergleichs, des Beschlusses des Hessischen Landessozialgerichts vom 2. Mai 2007 und des Anerkenntnisses der Beklagten im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 11. Juli 2007 im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes mit 24 stündiger Behandlungspflege - vorläufig - versorgt worden ist. Die Eltern der Klägerin haben indes ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass die Beklagte in dem hier streitigen Zeitraum zur Versorgung bzw. zur endgültigen Kostenübernahme verpflichtet gewesen ist, da sie ansonsten aufgrund der nur vorläufigen Leistung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes einem Schadensersatzanspruch der Beklagten ausgesetzt sein könnten (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 945 Zivilprozessordnung - ZPO -; vgl. auch: Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 9. Auflage, München 2008, § 86b Rdnr. 49a; Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 15. Januar 2009, L 1 KR 51/05 - juris -).

Die Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 4. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Februar 2007 ist teilweise rechtswidrig. Die Beklagte war verpflichtet, die Klägerin in dem streitigen Zeitraum mit einer 24 stündigen Behandlungspflege zu versorgen. Für die Beurteilung des Anspruchs auf Behandlungssicherungspflege als Sachleistung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist für die Zeit ab dem 1. Oktober 2006 § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V in der Fassung des GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG) vom 14. November 2003 (BGBl I 2190) - a.F. - zugrunde zu legen. Für die Zeit ab dem 1. April 2007 bemisst sich der Anspruch nach § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V in der Fassung des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG) vom 26. März 2007 (BGBl I 378), das am 1. April 2007 in Kraft getreten ist. Für die Beurteilung des Anspruchs ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Versorgung abzustellen. Nach Sinn und Zweck der Anspruchsnormen des Krankenversicherungsrechts, insbesondere § 27 SGB V, ist der Anspruch auf den Zeitpunkt der Erbringung der Leistung zu beziehen (Bundessozialgericht, Urteil vom 25. März 2003 - B 1 KR 17/01 R - juris -).

Versicherte erhalten in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Zieles der ärztlichen Behandlung erforderlich ist; der Anspruch umfasst das Anziehen und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen ab Kompressionsklasse 2 auch in den Fällen, in denen dieser Hilfebedarf bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach den §§ 14 und 15 des Elften Buches zu berücksichtigen ist, § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V a.F. Durch das GKV–WSG ist § 37 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz SGB V insoweit neu gefasst worden, als dass der Anspruch auch verrichtungsbezogene krankenspezifische Pflegemaßnahmen in den Fällen umfasst, in denen dieser Hilfebedarf bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach den §§ 14 und 15 des Elften Buches zu berücksichtigen ist.

Dass die Klägerin aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung (durchgehende Beatmungsnotwendigkeit mit ständiger Überwachung bei lebensbedrohlichen Atemnotzuständen) im streitgegenständlichen Zeitraum Anspruch auf die Gewährung von häuslicher Krankenpflege im Sinne einer 24-stündigen Behandlungspflege (Beatmungspflege nebst weiterer Behandlungspflege) dem Grunde nach hatte, steht nach der Überzeugung des Senats aufgrund der Gutachten des MDK vom 24. August 2005 und vom 1. Februar 2007 und dem Arztbrief von Dr. D. vom 14. Juni 2007 fest und ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig.

Die Notwendigkeit der ständigen Beobachtung eines Versicherten durch eine Fachkraft, um jederzeit medizinisch-pflegerisch eingreifen zu können, wenn es zu Verschlechterungen der Atmungsfunktion und zu Krampfanfällen kommt (lebensbedrohliche Komplikationen von Erkrankungen), ist als behandlungspflichtige Maßnahme zu betrachten (Bundessozialgericht, Urteil vom 10. November 2005, B 3 KR 38/04 R - juris -). Diese war von den Eltern der Klägerin nicht leistbar. Auch dies steht nach der Überzeugung des Senats aufgrund der vorliegenden MDK-Gutachten und dem Arztbrief von Dr. D. vom 14. Juni 2007 und der beruflichen Qualifikation der Eltern fest und ist zwischen den Beteiligten unstreitig.

Die Rechtsauffassung der Beklagten, dass von dem zeitlichen Gesamtumfang der erforderlichen Pflege der Zeitaufwand für die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in Abzug zu bringen und sie nur für die Restzeit zur Gewährung der Behandlungspflege verpflichtet sei, kann von dem Senat nicht geteilt werden. Soweit sich diese zur Begründung auf das so genannte Drachenfliegerurteil des Bundessozialgerichtes vom 28. Januar 1999 (B 3 KR 4/98 R) bezieht, ist dieses für die Zeit ab dem 1. Januar 2004 vom Bundessozialgericht als durch die Rechtsentwicklung überholt angesehen und aufgegeben worden. Durch das GMG und das GKV-WSG wollte der Gesetzgeber den Anspruch aus § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V auch bei gleichzeitiger Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XI möglichst ungeschmälert erhalten. Versicherte, die häuslicher Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 SGB V bedürfen, sollen diesen Anspruch auch dann in möglichst weitem Umfang wahrnehmen können, wenn sie pflegebedürftig sind und deshalb Leistungen nach dem SGB XI erhalten. Dies entspricht zum einen dem in § 31 SGB XI niedergelegten Grundsatz, dass die medizinische Rehabilitation gegenüber der Pflege Vorrang hat, und zum anderen dem Zweck der Regelungen der sozialen Pflegeversicherung, die Leistungen der GKV zu ergänzen, sie aber prinzipiell nicht - ganz oder teilweise - zu verdrängen. Die Parallelität und Gleichrangigkeit der Ansprüche gegen die Krankenkasse und die Pflegekasse kommt auch in der Vorschrift des § 13 Abs. 2 SGB XI zum Ausdruck, wonach die Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V unberührt bleiben (Bundessozialgericht, Urteil vom 17. Juni 2010, B 3 KR 7/09 R - juris -).

Im Weiteren betrifft nach der Auffassung des Senats die vom Bundessozialgericht entwickelte Kostenaufteilung zwischen Krankenkasse und Pflegekasse lediglich den Fall der gleichzeitigen Erbringung der Leistungen durch dieselbe Fachkraft. Dies ist vorliegend gerade nicht der Fall, da die häusliche Krankenpflege rund um die Uhr als Sachleistung (Pflegefachkraft) in Anspruch genommen wurde und die Grundpflege sowie die hauswirtschaftliche Versorgung durch die Eltern als Angehörige erledigt wurden. In dieser Konstellation ist der der Höhe nach nicht beschränkte Anspruch aus § 37 Abs. 2 SGB V ohne Abzüge zu erfüllen und dem Versicherten steht zusätzlich das volle Pflegegeld nach § 37 SGB XI zu. Der Pflegebedürftige hat in solchen Fällen die freie Wahl zwischen Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI und dem Pflegegeld nach § 37 SGB XI. Er ist insbesondere nicht verpflichtet, mit Rücksicht auf das Wirtschaftlichkeitsgebot Pflegesachleistungen in Anspruch zu nehmen, nur weil er die gleichzeitig erforderliche Behandlungspflege nach § 37 Abs. 2 SGB V als Sachleistung erhält und deshalb eine Fachkraft bereit steht, die auch die Pflegesachleistungen theoretisch - erbringen könnte. Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI wurden und konnten denknotwendigerweise in der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes auch nur dann als gegenüber der Krankenbeobachtung als Sachleistung der GKV vorrangig eingestuft werden, wenn beide Arten der Sachleistung von derselben Pflegekraft gleichzeitig erbracht werden konnten. Scheidet dies aus, weil die Maßnahmen von zwei Personen ausgeübt werden, stehen beide Ansprüche (§ 37 Abs. 2 SGB V einerseits bzw. im vorliegenden Fall § 37 SGB XI andererseits) nach Leistungserbringung und Zuständigkeit getrennt uneingeschränkt nebeneinander (Bundessozialgericht, a.a.O.; Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. März 2008, 1 BvR 2925/07; so auch im Ergebnis: Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 12. November 2008, L 5 B 476/08 KR ER; Landessozialgericht Niedersachsen–Bremen, Urteil vom 20. Januar 2010, L 4 KR 332/07 - juris -). In diesen Fällen ist oftmals die Behandlungspflege (Beatmungspflege nebst weiterer Behandlungspflege) 24 Stunden täglich erforderlich und daneben müssen Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung erbracht werden.

Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die oben dargestellten Grundsätze auch für den nicht streitgegenständlichen Zeitraum ab dem 1. Oktober 2007 bei einem gleichbleibenden medizinischen Bedarf und dem Vorliegen von weiteren ärztlichen Verordnungen Geltung beanspruchen (vgl. auch: Bundessozialgericht, Urteil vom 10. November 2005, B 3 KR 38/04 R zur Frage der zukünftigen Leistungsgewährung).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird nicht zugelassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

 

Die Veröffentlichung des Urteils erfolgt nach ausdrücklicher Genehmigung durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main. Eine Nutzung dieses Urteils von Sozialversicherung-kompetent.de zur gewerblichen Nutzung ist untersagt.

Weitere Artikel zum Thema: