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Landessozialgericht Hessen 09.12.2010, L 1 KR 189/10

  • Aktenzeichen: L 1 KR 189/10
  • Spruchkörper: 1. Senat
  • Instanzenaktenzeichen: S 12 KR 70/07
  • Instanzgericht: Sozialgericht Kassel
  • Gericht: Hessisches Landessozialgericht
  • Entscheidungstyp: Urteil
  • Entscheidungsdatum: 09.12.2010

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um den Umfang der Versorgung mit häuslicher Krankenpflege.

Die 1999 geborene Klägerin leidet u.a. an einer schweren Mehrfachbehinderung durch Trisomie 21, Enzephalopathie und Densfraktur mit hohem Querschnitt, einer respiratorischen Insuffizienz, einem Ernährungsproblem bei Schluckstörung und neurogenen Miktionsstörungen und Ostipation. Sie ist täglich 24 Stunden beatmungspflichtig und wird über eine PEG-Sonde ernährt. Die Klägerin benötigt u.a. zweimal täglich eine intensive Atemtherapie zur Pneumonieprophylaxe bei Neigung zum Sekretverhalt und ein bedarfsabhängiges Absaugen über die Trachealkanüle, um die oberen Luftwege freizuhalten. Im Weiteren ist eine mehrfache tägliche Lagerung und Durchmobilisierung aller Gelenke bei Tetraspastik notwendig. Allein wegen der Beatmungspflege und des Risikos plötzlich auftretender Komplikationen (akut eintretende vitale Ateminsuffizienz) ist die kontinuierliche Anwesenheit einer qualifizierten Krankenpflegefachkraft erforderlich. Von der beigeladenen Pflegekasse beziehen die Eltern der Klägerin seit dem 15. Juli 2000 Pflegegeld nach Pflegestufe III, nachdem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung – MDK – (zuletzt vom 24. August 2005 bzw. 1. Februar 2007) einen durchschnittlichen täglichen grundpflegerischen Mehrbedarf der Klägerin von 303 Minuten ergeben hatten. Sämtliche Maßnahmen der Krankenbeobachtung und der sonstigen medizinischen Behandlungspflege wurden zunächst von Fachkräften der Diakoniestation B-Stadt durchgeführt und werden im Anschluss daran nun von Fachkräften des Gemeinnützigen Vereins für häusliche Alten- und Krankenpflege Pflege – Hilfe & Betreuung e.V. wahrgenommen. Die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung erfolgt durch die Mutter der Klägerin, die den Beruf der Hauswirtschafterin erlernt hat, und den Vater, der von Beruf Werkzeugmacher ist.

Ab Februar 2006 übernahm die Beklagte zunächst die Kosten der 24-stündigen Behandlungspflege jeweils für drei Monate befristet nach Vorlage entsprechender ärztlicher Verordnungen. Mit Bescheid vom 4. September 2006 wies die Beklagte die Eltern der Klägerin darauf hin, dass ab dem 1. Oktober 2006 von der beantragten häuslichen Krankenpflege entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts der Zeitanteil abgezogen werde, der auf die Grundpflege entfalle. Während der Erbringung der Grundpflege trete die Behandlungspflege in den Hintergrund, so dass die Kostenzusage für die häusliche Krankenpflege um täglich 5 Stunden und 3 Minuten zu kürzen sei. Den Widerspruch der Eltern der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 2007 zurück.

Auf den Antrag der Eltern der Klägerin vom 18. Oktober 2006 hat das Sozialgericht Kassel der Beklagten im Rahmen eines Verfahrens auf einstweiligen Rechtsschutz mit Beschluss vom 13. November 2006 aufgegeben, die Klägerin vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache auf der Grundlage der Verordnung der Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin C. vom 25. September 2006 über den 30. September 2006 hinaus im Umfang von 24 Stunden täglich mit Beatmungspflege im Rahmen der häuslichen Krankenpflege als Sachleistung auch insoweit zu versorgen, als lediglich eine Überwachung/Beobachtung von Vital- und Beatmungsparametern bzw. der Beatmungstechnik erforderlich sei, wobei deren Notwendigkeit über den 31. Dezember 2006 hinaus alle drei Monate spätestens 14 Tage vor dem Ende des Kalendervierteljahres durch Vorlage entsprechender ärztlicher Verordnungen gegenüber der Beklagten nachzuweisen sei (Az.: S 12 KR 247/06 ER). Auf die hiergegen erhobene Beschwerde der Beklagten vom 12. Dezember 2006 hat sich die Beklagte im Rahmen eines Vergleichs am 16. Januar 2007 vor dem Hessischen Landessozialgericht verpflichtet, der Klägerin häusliche Krankenpflege in Form von Behandlungspflege täglich 24 Stunden bis zum 31. März 2007, höchstens bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens, nach Vorlage entsprechender vertragsärztlicher Verordnungen zu leisten.

Auf den Antrag der Eltern der Klägerin vom 27. Februar 2007 hat das Sozialgericht Kassel mit Beschluss vom 21. März 2007 der Beklagten im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens erneut eine vorläufige Versorgung der Klägerin mit Beatmungspflege bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache aufgegeben (Az.: S 12 KR 69/07 ER). Auf die hiergegen erhobene Beschwerde der Beklagten vom 2. April 2007 hat das Hessische Landessozialgericht mit Beschluss vom 2. Mai 2007 die Beklagte unter Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts Kassel vom 21. März 2007 verpflichtet, die Klägerin mit Beatmungspflege als Behandlungspflege nach Maßgabe des erstinstanzlichen Beschlusses bis zum Abschluss des Klageverfahrens zu versorgen. Die ärztlichen Verordnungen wurden von den Eltern der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum vorgelegt.

Am 27. Februar 2007 haben die Eltern der Klägerin gegen den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 21. Februar 2007 Klage beim Sozialgericht Kassel erhoben. Zur Begründung haben sie darauf hingewiesen, dass durch die Kürzung der Kostenübernahme für die Behandlungspflege eine lückenlose Überwachung der Klägerin nicht mehr gewährleistet sei, da die anfallenden Kosten in Höhe von durchschnittlich 3.958,80 EUR monatlich durch sie nicht aufgebracht werden könnten. Sie hätten sich bewusst für die Pflege ihrer Tochter und damit für die Inanspruchnahme von Pflegegeld entschieden. Bei einer Anrechnung von Zeiten der Grundpflege auf die Behandlungspflege werde das gesetzlich vorgesehene Wahlrecht zwischen Geld- und Sachleistungen im Bereich der Pflegeversicherung ausgehebelt. Bei Beatmungspatienten bestehe das Erfordernis einer kontinuierlichen Überwachung durch medizinische Fachkräfte, um bei lebensbedrohlichen Zwischenfällen adäquat reagieren zu können. In diesen Fällen könne man allein aufgrund der Bedeutung der Behandlungspflege für die lebenserhaltenden Funktionen nicht davon sprechen, dass bei der Ausführung der Grundpflege die Behandlungspflege in den Hintergrund trete. Zur Bestätigung ihres Vorbringens haben sie Pflegeprotokolle von April 2007 bis Juni 2007 und einen Arztbrief von Dr. D. aus dem Kinderkrankenhaus E. vom 14. Juni 2007 vorgelegt. Die Beklagte hat im Klageverfahren an ihrer Rechtsauffassung, dass bei der unstreitig zu gewährenden 24-stündigen Behandlungspflege der Zeitaufwand für die Grundpflege zu kürzen sei, festgehalten. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Kassel vom 11. Juli 2007 hat sich die Beklagte verpflichtet, die laufenden Leistungen der häuslichen Krankenpflege im Umfang von 24 Stunden bei Vorlage der entsprechenden ärztlichen Verordnungen bis zur Rechtskraft der erstinstanzlichen Entscheidung vorläufig zu gewähren. Mit Urteil vom 11. Juli 2007 hat das Sozialgericht Kassel den Bescheid der Beklagten vom 4. September 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21. Februar 2007 abgeändert und die Beklagte verpflichtet, die Klägerin im Zeitraum vom 1. Oktober 2006 bis zum 30. September 2007 im gesetzlichen Umfang über die bisherige vorläufige Leistungserbringung hinaus endgültig von den Kosten der der Klägerin verordneten 24-stündigen Behandlungspflege freizustellen. Zur Begründung nimmt es im Wesentlichen auf seine Ausführungen im Rahmen der Beschlüsse vom 13. November 2006 und vom 21. März 2007 in den Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz (Az.: S 12 KR 247/06 ER und S 12 KR 69/07 ER) Bezug.

Gegen das der Beklagten am 13. Juli 2007 zugestellte Urteil des Sozialgerichtes Kassel hat diese am 24. Juli 2007 Berufung zum Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Zur Begründung führt die Beklagte aus, dass zwar unstreitig aufgrund der Schwere der Erkrankung der Klägerin eine 24-stündige Behandlungspflege erforderlich sei. Die Rechtsansicht des Sozialgerichtes, dass diese Behandlungspflege neben der Grundpflege aus der Pflegeversicherung in vollem Umfang zu Lasten der Beklagten beansprucht werden könne, stehe jedoch nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes. Dieses habe bereits in dem so genannten Drachenfliegerurteil (Urteil vom 28. Januar 1999, B 3 KR 4/98 R) die Grundsätze aufgestellt, nach denen die Kosten der häuslichen Pflege zwischen der Krankenkasse, der Pflegekasse und dem Versicherten abzugrenzen und aufzuteilen seien. Das Bundessozialgericht gestehe dem Versicherten ein Wahlrecht hinsichtlich der Berücksichtigung von verrichtungsbezogenen Pflegemaßnahmen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege als Behandlungspflege oder im Rahmen der Pflegeleistungen nach der gesetzlichen Pflegeversicherung zu. Dieses Wahlrecht bestehe jedoch nicht für jegliche Maßnahmen, sondern nur für den Sonderfall der Untrennbarkeit der Behandlungs- und Grundpflege, der vorliegend nicht gegeben sei. Zwei Sozialleistungsträger könnten zwar gegenüber demselben Leistungsberechtigten im Vorrang- und Nachrangverhältnis für eine bestimmte Leistung zuständig sein, grundsätzlich aber nicht gleichzeitig und gleichrangig. Bei Bedürftigkeit müsse zudem eine Restfinanzierung der Versorgung der Klägerin mit den Mitteln der Sozialhilfe erfolgen. Zur Bestätigung ihres Vorbringens hat sie eine Entscheidung des Landessozialgerichtes Baden-Württemberg vom 4. Dezember 2007 (L 11 KR 3761/07) vorgelegt.

In dem Zeitraum ab dem 1. Oktober 2006 erfolgte eine tatsächliche Versorgung der Klägerin mit der verordneten 24-stündigen Behandlungspflege durch die Beklagte.

Der Senat hat mit Beschluss vom 7. Oktober 2010 die Pflegekasse beigeladen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichtes Kassel vom 11. Juli 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Eltern der Klägerin beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie weisen darauf hin, dass die von der Beklagten vorgenommene Anrechnung der Zeiten der Grundpflege auf die Behandlungspflege nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes lediglich für den Fall gelte, in dem ein Pflegedienst sowohl Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) als auch nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch Soziale Pflegeversicherung – (SGB XI) erbringe, die Leistungen der Grundpflege also nicht von Angehörigen erbracht würden. Bei Beatmungspflegepatienten werde durch die gleichzeitige Ausübung der Grundpflege gerade keine Behandlungspflege unterbrochen. Dies bestätige auch die Entscheidung des Bundessozialgerichtes vom 17. Juni 2010 (B 3 KR 7/09 R).

Die Beigeladene hat keine Anträge gestellt.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erteilt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Gerichtsakten Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung gewesen sind.

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