Sozialgericht Wiesbaden, S 2 KR 206/06
- Aktenzeichen: S 2 KR 206/06
- Spruchkörper: 2. Kammer
- Gericht: Sozialgericht Wiesbaden
- Entscheidungstyp: Urteil
- Entscheidungsdatum: 24.05.2007
- Normen: GG Art. 2 Abs. 1, SGB V § 27 Abs. 1, SGB V § 28 Abs. 1, SGB V § 31 Abs. 1, SGB V § 39 Abs. 1
Tatbestand:
Die Parteien streiten um die Kostenübernahme für eine teilstationäre Botox-Behandlung gegen palmoplantare Hyperhidrose.
In einem Vermerk vom 16. Februar 2006 über ein Gespräch mit der Klägerin hielt die Beklagte fest, dass die Klägerin Probleme mit einem übermäßigen Schweißausbruch an den Handflächen habe und dies bei ihrem Beruf als Ergotherapeutin sehr hinderlich sei. Im Jahr 2002 sei bereits einmal erfolgreich eine Botox-Behandlung durchgeführt worden, deren Kosten von der Betriebskrankenkasse C übernommen worden seien.
Zur Prüfung eines Anspruchs der Klägerin auf Kostenübernahme für eine entsprechende Botox-Behandlung zog die Beklagte verschiedene medizinische Unterlagen heran:
Der Bericht der Deutschen Klinik für Diagnostik, B-Stadt, vom 17. Dezember 2002 gab bei der Klägerin als Diagnose "Hyperhidrosis focalis (ICD 10 R 61.0)” an und wies auf eine übermäßige Schweißneigung der Handinnenflächen und der Fußsolen bei der Klägerin hin. Es seien regelmäßig Ovulationshemmer eingenommen worden und dann sei in der Klinik für Diagnostik eine Butolinum-Behandlung unter Vollnarkose erfolgt.
In einem Befundbericht vom 2. Juli 2004 wiesen die Ärzte Dr. D-D. und Dr. D. darauf hin, dass die Klägerin unter stark vermehrtem Schwitzen an Händen und Füßen in höchster Ausprägung leide. Die Anwendungen von Salben und Anithydotika hätte bisher versagt. Lediglich die einmalige Applikation von Botox unter Vollnarkose in der Deutschen Klinik für Diagnostik, B-Stadt, habe eine ausgezeichnete Wirkung erbracht. Diese sei jedoch bekanntlich in der Dauer begrenzt.
Auf der Basis dieser medizinischen Unterlagen holte die Beklagte zur Frage der Kostenübernahme für eine Botox-Behandlung bei Hyperhidrosis der Hände und Füße ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ein. In seinem Gutachten vom 15. März 2006 wies Dr. D darauf hin, dass das vorgelegte Präparat sozialmedizinisch nicht zu empfehlen sei, weil die vom Bundessozialgericht formulierten Voraussetzungen für einen Off-Label-Use zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht erfüllt seien. Es liege nach den Kriterien des Bundessozialgerichts zwar eine schwerwiegende Erkrankung vor. Diese sei zwar nicht lebensbedrohlich. Es handele sich aber um eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung. Die Frage, ob andere Therapien zur Behandlung dieser Krankheit vorlägen, müsse aber verneint werden, weil eine Iontophorese-Behandlung und eine Behandlung mit Aluminium-Chlorid-Lösung in Betracht käme. Hinsichtlich der Frage, ob eine begründete Aussicht bestehe, dass mit der Behandlung ein Behandlungserfolg zu erzielen sei, sei darauf hinzuweisen, dass eine Erweiterung der Zulassung des Medikaments nicht beantragt sei. Hinsichtlich der dann erforderlichen, außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnenen Erkenntnisse sei darauf zu verweisen, dass eine Wirksamkeit von Butulinumtoxin A anhand der bisherigen Untersuchungen mit kleinerer Patientenzahl auch bei palmarer bzw. plantarer Hyperhidrose vermutet werden könne. Die Evidenz für die Wirksamkeit sei jedoch bei axiliärer Hyperhidrosis größer, so dass hier inzwischen auch die arzneimittelrechtliche Zulassung erfolgt sei. Entsprechende, kontrollierte Studien der Phase III mit Wirksamkeitsnachweis lägen für die palmo bzw. plantare Hyperhidrosis nicht vor.
Mit Bescheid vom 16. März 2006 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme für eine teilstationäre Botox-Behandlung unter Vollnarkose ab. Zur Begründung verwies die Beklagte darauf, dass die Kriterien des Bundessozialgerichts für eine Kostenübernahme bei einem Off-Label-Use nicht erfüllt seien, da als vertragliche Alternativen die Behandlung mit Iontophorese oder mit Aluminium-Chlorid-Lösung zur Verfügung stände. Mit Schreiben vom 31. März 2006 legte die Klägerin gegen diesen Bescheid Widerspruch ein und wies darauf hin, dass beide von der Beklagten genannten Alternativ-Therapien bei ihr erfolglos durchgeführt worden seien. Die Iontophorese sei in den Jahren 1997 und 1999 und die Behandlung mit Aluminium-Chlorid-Lösung im Jahr 2004 erfolglos durchgeführt worden. Außerdem habe sie monatelang ebenfalls erfolglos Salbei eingenommen. Nur eine Botox-Behandlung im Jahr 2002 sei erfolgreich gewesen. Ihres Wissens existierten zahlreiche Studien, die die Effektivität einer Botox-Behandlung einer palmoplantaren Hyperhidrose nachwiesen. Außerdem habe ihr der Originalhersteller Allergan mitgeteilt, dass eine Zulassung aus Kostengründen in den nächsten zwei bis drei Jahren nicht beantragt werde.
Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung erneut ein Gutachten zur Kostenübernahme für die beantragte Botox-Behandlung ein. In seinem Gutachten vom 7. April 2006 wies Dr. G. darauf hin, dass die Klägerin an übermäßiger Schweißbildung an Händen und Füßen leide und dies nach ihren Angaben bei der Berufstätigkeit sehr hinderlich sei. Dabei machte der den Hinweis, dass Schweißhände und Schweißfüße im Einzelfall so extrem sein könnten, dass sie sich im Berufsleben und bei sozialen Kontakten negativ auswirkten. Zum dem Präparat, dessen Kostenübernahme zu prüfen sei, wies Dr. G. darauf hin, dass es sich um eine Botox-Trockensubstanz zur Herstellung eine Indikationslösung handele. Diese habe als Anwendungsbereich eine starke fortbestehende primäre Hyperhidrosis axiliaris, die störende Auswirkungen auf die Aktivität des täglichen Lebens habe und mit einer topischen Behandlung nicht ausreichend kontrolliert werden könne. Die Studien zu Botulinumtoxin des Typs A in der Behandlung von palmarer Hyperhidrose seien limitierter und weniger konsistent als die Studien zur Behandlung von axillärer Hyperhidrose. Im Einzelnen führte Dr. G. drei Studien mit 8, 19 bzw. 24 Patienten an. Außerdem gab er einen Auszug aus dem "Arzneimittel-Telegramm 10/2003" wieder, nach dem Botulinumtoxin für die Anwendung gegen starkes Schwitzen der Hände nicht zugelassen sei. Zum Nutzen dieser Indikation seien bisher nur zwei kleinere randomisierte Studien mit Rechts-Links-Vergleich veröffentlicht worden, in denen jeweils eines der Präparate Botox oder Dysport geprüft worden sei. Die Behandlung wirke zwar bei den meisten Patienten. Die Handmuskeln würden jedoch in einem hohen Prozentsatz zumindest subklinisch geschwächt. Abschließend kam Dr. G. in seinem Gutachten zu folgender Beurteilung: Die Zulassung von Botox bestehe nur für axilläre Hyperhidrose. Um einen Off-Label-Use handelt es sich, da sich die Zulassung nur auf axilläre Hyperhidrose beschränke und diese nicht automatisch auch für die palmoplantare Hyperhidrose gelte. Gleichwohl dürfe unterstellt werden, dass Botox ebenso bei palmoplantarer Hyperhidrose wirke, da die Pathophysiologie dieser übermäßigen Schweißbildung dieselbe sei wie bei axillärer Hyperhidrose. Es dürfe somit von einer Wirksamkeit ausgegangen werden. Darüber hinaus habe eine Botox-Therapie im Jahr 2002 bei der Klägerin zum Erfolg geführt, so dass die individuelle Wirksamkeit belegt sei. Die Botox-Therapie komme nur bei Ausschöpfung lokaler Maßnahmen und der - vor allem auch ungefährlichen - jedoch oft sehr gut wirksamer Leitungswasser-Iontophorese in Betracht. Das Bundessozialgericht stelle an einen Off-Label-Use die Anforderung, dass aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht bestehen müsse, dass mit dem betreffenden Präparat ein Erfolg erzielt werden könne. Wenn eine Erweiterung der Zulassung nicht beantragt sei, müssten außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sein, die über die Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in den neuen Anwendungsfällen zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zuließen. Es lägen jedoch weder Phase-III-Studien zur Behandlung der palmaren oder plantaren Hyperhidrose vor, noch bestünden nach seiner Bewertung der Datenlage "zuverlässige Aussagen" im Sinne der Anforderungen des Bundessozialgerichts zum Nutzen (nicht nur zur bloßen Wirksamkeit) bei dieser Indikation vor. Somit seien die Voraussetzungen des Bundessozialgerichts zur Kostenübernahme seines Erachtens nicht erfüllt. Im Übrigen verwies Dr. G. auf die Schädigungsmöglichkeit durch die Behandlung.
Mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2006 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin gegen den ablehnenden Bescheid als unbegründet zurück. Zur Begründung verwies die Beklagte darauf, dass die Kriterien des Bundessozialgerichts zum Off-Label-Use nicht erfüllt seien, da keine "zuverlässigen Aussagen" zum Nutzen des Medikaments bei der vorliegenden Indikation vorlägen. Auch unter Heranziehung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 sei keine andere Entscheidung zu treffen, da nicht von einer lebensbedrohlichen oder sogar tödlichen Erkrankung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auszugehen sei.
Dagegen richtet sich die am 17. Juli 2006 erhobene Klage.
Die Klägerin ist der Auffassung, die Beklagte wäre zur beantragten Kostenübernahme verpflichtet.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 16. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2006 aufzuheben und die Beklagte zur Kostenübernahme für eine teilstationäre Botox-Behandlung gegen palmoplantare Hyperhidrose zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hält ihren ablehnenden Bescheid für rechtmäßig.
Zur Ermittlung des medizinischen Sachverhaltes hat das Gericht bei den behandelnden Ärzten und Kliniken Befundberichte eingeholt.
In seinem speziell zur Erkrankung der Klägerin erstellten Befundbericht vom 5. November 2007 weist Dr. C. darauf hin, dass die Klägerin ihm aus der regelmäßigen hausärztlichen Betreuung bekannt sei. Die üblichen Verfahren der Behandlung mit Leitungswasser-Iontophorese und Aluminium-Chlorid-Lösung seien erfolgt und ein operatives Verfahren sei prinzipiell denkbar. Auch die Anwendung von Dysport sei theoretisch möglich. Jedoch besteht keine entsprechende Zulassung des Medikaments. In seinem Befundbericht vom 19. November 2007 weist Dr. D. darauf hin, eine 3 bis 4wöchige Leitungswasser-Iontophorese ohne merkbaren Erfolg geblieben sei und auch die Verordnung von Aluminium-Chlorid in seiner Praxis stattgefunden habe. In ihrem Befundbericht vom 16. November 2007 stellt die Deutschen Klinik für Diagnostik, B-Stadt, die Diagnose "Hyperhidrosis focalis" auf und beantwortet die entsprechenden Fragen des Gerichts dahingehend, dass bis zum 24. Oktober 2002 keine Leitungswasser-Iontophorese durchgeführt worden sei, eine operative Behandlung einer Hyperhidrosis an Händen und Füßen nicht möglich sei und die Wirksubstanz der beiden Präparaten Botox und Dysport gleich seien, so dass ein Austausch nicht sinnvoll sei, durchaus aber eine Erhöhung der Dosierung von Botox. Da die Wirkung der Behandlung vom 24. Oktober 2002 nicht zufriedenstellend gewesen sei, sei eine Erhöhung der Dosis diskutiert worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.