Landessozialgericht Hessen 24.05.2007, L 8/14 KR 26/04
- Aktenzeichen: L 8/14 KR 26/04
- Spruchkörper: 8. Senat
- Instanzenaktenzeichen: S 20 KR 1741/02
- Instanzgericht: Sozialgericht Frankfurt/Main
- Gericht: Hessisches Landessozialgericht
- Entscheidungstyp: Urteil
- Entscheidungsdatum: 24.05.2007
- Normen: SGB V § 69, SGB V § 11 Abs. 1, SGB V § 15 Abs. 1, BPflV § 16 Abs. 2, BGB § 291, BGB § 288 Abs. 2
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Abrechnung einer Krankenhausbehandlung.
Das beklagte Universitätsklinikum behandelte in der Zeit vom 15. Februar bis 14. März 2001 den bei der Klägerin versicherten Patienten MM. (M.), geboren 1963, stationär. Bei M. war im August 2000 eine akute myeloische Leukämie (bösartige Erkrankung der weißen Blutkörperchen) mit Hochrisikoprofil festgestellt worden. Nach mehreren Chemotherapien am Universitätsklinikum GH. erfolgte die Überweisung an die Beklagte zur Durchführung einer allogenen (von einem Spender stammenden) Blutstammzelltransplantation. Zur Vorbereitung einer solchen Stammzelltransplantation wird zunächst mittels einer hoch dosierten Chemotherapie neben den Tumorzellen auch das körpereigene Knochenmark zerstört, welches sich in den Hohlräumen der Knochen befindet und aus der Mutterzelle der Blutzellen und heranreifenden Blut- und Immunzellen besteht (sog. Myeloablation). Diese sog. Konditionierung erfolgte bei dem Patienten M. ab dem 17. Februar 2001 mit den Präparaten Busulfan in einer Dosierung von 4 x 1 mg/kg Körpergewicht am Tag sechs und fünf vor der Transplantation, Fludarabin (5 x 30 mg/m²) an den Tagen sechs bis zwei und CsA (2 x 2 mg/kg Körpergewicht ab Tag eins). Am 23. Februar 2001 erfolgte sodann die allogenverwandte Stammzelltransplantation durch Transfusion von blutbildenden Stammzellen des Bruders des Patienten M.
Am 14. März 2001 wurde der Patient M. entlassen. Die Entlassungsanzeige der Beklagten führte den ICD-10-Diagnoseschlüssel C92.1 (akute myeloische Leukämie) und den Operationsschlüssel 5-411.1 (allogene Knochenmarktransplantation) auf. Hierfür berechnete die Beklagte der Klägerin am 19. April 2001 einen Gesamtbetrag von 249.153,92 DM (127.460,76 €), wovon auf die – hier streitige – Fallpauschale 11.02 ein Betrag von 247.869,60 DM (126.733,71 €) entfielen. Die Klägerin beglich diese Rechnung am 25. April 2001 unter dem Vorbehalt einer Nachprüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK).
Am 29. Mai 2001 forderte die Klägerin von der Beklagten die Rückzahlung des Rechnungsbetrages unter Hinweis auf ein Gutachten des MDK vom 15. Mai 2001, wonach die in der Bundespflegesatzverordnung (BPflV) definierten inhaltlichen Voraussetzungen zur Abrechnung der Fallpauschale 11.02 nicht vorlägen. Die Beklagte lehnte eine Rückzahlung ab.
Die Klägerin hat am 22. Mai 2002 Klage zum Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben, mit der sie zunächst die Verurteilung der Beklagten zu Zahlung von 126.733,71 € (Vergütung der Fallpauschale 11.02) begehrt hat. In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hat die Klägerin notwendige Behandlungskosten des Klinikaufenthalts auf der Grundlage tagesgleicher Pflegesätze in Höhe von 9.607,69 € anerkannt und ihre Klageforderung auf 117.126,02 € reduziert. Unter Bezugnahme auf mehrere Gutachten des Kompetenz Centrum Onkologie des MDK N.-Stadt (Prof. Dr. HL.) hat die Klägerin ausgeführt, die Fallpauschale 11.02 sei nur abrechenbar bei einer myeloablativen Therapie, bei der im Rahmen der Konditionierungsphase versucht werde, durch die chemotherapeutische Behandlung die erkrankten blut- und lymphzellbildenden Zellen möglichst komplett zu zerstören. Diese Prozedur beinhalte eine weitgehende Zerstörung der Knochenmarksfunktion mit der Folge, dass die anschließende Durchführung einer Stammzelltransplantation zwingend notwendig sei, um das Überleben des Patienten zu sichern. Demgegenüber habe die Beklagte eine nicht-myeloablative Konditionierung vorgenommen, indem sie die Dosis von Busulfan auf die Hälfte reduziert habe. Hierbei handele es sich um eine neue Behandlungsmethode, die darauf setze, dass durch eine Schwächung der erkrankten Zellen verbunden mit der Transplantation gesunder Stammzellen unter Ausnutzung immunologischer Prozesse im Ergebnis ein vollständiger Wechsel von der Spender- zur Empfängerhämatopoese stattfinde. Damit werde der Begriff „myeloablativ“ in der Fallpauschale 11.02 aber systemwidrig vom Ergebnis her definiert. Der Begriff „myeloablativ“ sei in der medizinischen Fachwelt immer auf das Konditionierungsprogramm bezogen worden und berücksichtige die mit der myeloablativen Konditionierung einhergehenden kostenintensiven schweren Komplikationen. Komplikationen und entsprechende Kosten seien bei der nicht-myeloablativen Behandlung wesentlich geringer.
Mit Urteil vom 14. Januar 2004 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen der Fallpauschale 11.02 seien erfüllt. Sowohl die vom beklagten Klinikum gewählte Operationsprozedur 5-411.1 als auch die Diagnoseziffer C92.0 unterfalle den Vorgaben der Fallpauschale. Aber auch die Textdefinition der Fallpauschale sei erfüllt, weil die von der Beklagten eingesetzte modifizierte Form der Konditionierung eine „myeloablative Therapie“ darstelle. Zwar werde eine dosisreduzierte Konditionierung durchgeführt, jedoch stelle die Fallpauschalendefinition nicht auf eine bestimmte Art und Weise der Konditionierung bzw. auf die Dosis ab. Soweit in Richtlinien oder in der Literatur die myeloablative Chemotherapie mit einer dosisintensiven Chemotherapie gleichgesetzt werde, spiegelt dies den seinerzeitigen wissenschaftlichen Diskussionsstand wieder, ohne dass bei der nach der Rechtsprechung gebotenen strikten Wortlautauslegung der
Fallpauschalendefinition dieser einer entsprechende Festlegung entnommen werden könne.
Gegen das ihr am 5. Februar 2004 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 2. März 2004 Berufung eingelegt.
Sie führt – unter Berufung auf ein weiteres Gutachten des Kompetenz Centrum Onkologie des MDK N.-Stadt vom 16. Februar 2004 – aus, entgegen der Auffassung des Sozialgerichts beziehe sich das Wort „myeloablativ“ in der Textdefinition der Fallpauschale 11.02 auf die Art der Vorbehandlung. Das ergebe sich aus einem 1995 vom Bundesministerium für Gesundheit zur Kalkulation von Fallpauschalen und Sonderentgelten für die BPflV 1995 in Auftrag gegebenen Gutachten, denn hier sei der Begriff „myeloablativ“ eingeführt worden, um diese Art der Transplantationsbehandlungen von „nicht-myeloablativen“ Transplantationsverfahren abzugrenzen. Das entspreche auch der Definition, wie sie von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Knochenmark- und Blutstammzelltransplantation 1997 veröffentlicht worden sei. Nicht-myeloablative Therapien hätten sich im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Fallpauschalen noch in klinischer Prüfung befunden und seien deshalb nicht in die Fallpauschalenregelung aufgenommen worden. Es gebe zahlreiche, inhaltlich absolut übereinstimmende Definitionen des Begriffs „myeloablative Therapie“ von Experten und Institutionen, die belegten, dass es sich um einen feststehenden Begriff der medizinischen Wissenschaft handele. Diese Rechtsauffassung werde durch ein Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 1. Juni 2006 (L 1 KR 142/04) bestätigt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 14. Januar 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an sie einen Betrag von 117.126,02 € nebst Zinsen von 8 % Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das sozialgerichtliche Urteil. Auf die Textdefinition der Fallpauschale komme es schon gar nicht an, weil nach Ziffer 2 der Abrechnungsbestimmungen für die Zuordnung eines Patienten zu einer Fallpauschale der Operations- und Diagnoseschlüssel vorrangig sei, die beide unstreitig erfüllt seien. Entgegen der Auffassung der Klägerin gebe es keine gesicherte Begriffsbildung hinsichtlich des Wortes „myeloablativ“. Dieser sei vielmehr in der medizinischen Wissenschaft sehr umstritten. Insbesondere werde bestritten, dass aus dem Ergänzungsbericht VI zu entnehmen sei, dass die dosisreduzierte Konditionierung aus dem Anwendungsbereich der Fallpauschalendefinition herausfalle.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.