Die Mitwirkungspflichten nach §§ 60 bis 64 SGB I
Die Rechtsvorschriften der §§ 60 bis 64 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) regeln die Pflichten, die Einzelne im Zusammenhang mit der Beantragung bzw. mit einem Bezug von Leistungen haben. Damit wird verdeutlicht, dass die Einzelnen im Zusammenhang mit den Leistungen aus der Sozialversicherung nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten haben.
Sollte jemand einer Mitwirkungspflicht, welche sich aus den §§ 60 bis 64 SGB I ergibt, nicht nachkommen, regelt § 66 SGB I die Folgend der fehlenden Mitwirkung.
Die Mitwirkungspflichten von Leistungsberechtigten werden unter „Angabe von Tatsachen“, „Persönliches Erscheinen“, „Untersuchungen“, „Heilbehandlung“, „Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben“ (früher: „Berufsfördernde Maßnahmen“) untergliedert.
Die Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 ff. SGB I bestehen für das Leistungsverfahren. Bei Nicht-Befolgen der Mitwirkungspflichten, hat der Leistungsberechtigte mit sozial-rechtlichen Nachteilen zu rechnen. Die Leistungen können dann vollständig oder teilweise bzw. zeitweilig oder endgültig verloren gehen bzw. nicht gewährt werden.
Auch für Minderjährige, die nach § 36 SGB I handlungsfähig sind, bestehen die Mitwirkungspflichten der §§ 60 ff. SGB I.
Angabe von Tatsachen – § 60 SGB I
Mit § 60 SGB I wird geregelt, dass derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält,
- alle Tatsachen anzugeben hat, die für die Leistung erheblich sind,
- für die Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte zustimmen muss, sofern dies der zuständige Leistungsträger verlangt,
- Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich mitzuteilen und
- Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen.
Die Rechtsvorschrift regelt „nur“ die Auskunftspflicht von Leistungsberechtigten. Die Auskunftspflicht von Arbeitgebern ergibt sich aus § 98 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) und die Auskunftspflicht von Angehörigen, Unterhaltspflichtigen oder sonstigen Personen aus § 99 SGB X. Die Auskunftspflicht des Arztes oder von Angehörigen eines anderen Heilberufs gegenüber dem Leistungsträger ist in § 100 SGB X geregelt.
Darüber hinaus gibt es im Bereich der Gesetzlichen Rentenversicherung besondere Regelungen zur Mitwirkungspflicht und zur Auskunfts- und Mitteilungspflicht, welche im Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) geregelt sind. Nach § 149 Abs. 4 SGB VI müssen die Versicherten bei der Klärung des Rentenversicherungskontos mitwirken. Eine weitere Mitwirkungspflicht im Zusammenhang mit der Durchführung der Rentenversicherung ergibt sich aus § 28o SGB IV und § 196 Abs. 1 SGB VI.
Die Mitwirkungspflichten in Form von Angaben von Tatsachen können sich einerseits während des Antragsverfahrens, andererseits während eines laufenden Leistungsbezugs ergeben.
Die Angabe von Tatsachen beschränkt sich für den Leistungsberechtigten auf die Tatsachen, welche ihm bereits bekannt sind. Eigene Ermittlungen muss der Leistungsberechtigte nicht vornehmen.
Die Leistungsberechtigten sollen Vordrucke benutzen, soweit diese für die Anfragen der Tatsachen bzw. Änderungen in den Verhältnissen vorgesehen sind (vgl. § 60 Abs. 2 SGB I). Hierbei handelt es sich um keine Pflicht, sondern lediglich um eine Soll-Regelung. Das heißt, dass es zu keinen Sanktionen für den Leistungsberechtigten kommen kann, wenn dieser beispielsweise formlos bzw. ohne Verwendung von vorhandenen Vordrucken die Tatsachen entsprechend § 60 SGB I gegenüber dem zuständigen Leistungsträger angibt.
Persönliches Erscheinen – § 61 SGB I
Nach § 61 SGB I sollen Versicherte, die Sozialleistungen beantragt haben oder bereits beziehen, auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers zur mündlichen Erörterung des Antrags oder zur Vornahme anderer für die Entscheidung über die Leistung notwendiger Maßnahmen persönlich erscheinen.
Das Bundessozialgericht hat am 20.03.1980 (Az. 7 Rar 21/79) entschieden, dass die Mitwirkungspflicht nach § 61 SGB I voraussetzt, dass der Sozialleistungsträger nach seinem Willen und nach dem geäußerten Inhalt des Verlangens zum persönlichen Erscheinen unmissverständlich eine Mitwirkung begehrt. Zugleich muss auch auf die möglichen Folgen hingewiesen werden, wenn der Versicherte der Mitwirkungspflicht zum persönlichen Erscheinen nicht nachkommt.
Das persönliche Erscheinen kann ein Leistungsträger dann für sinnvoll erachten, wenn sich Fragen im Zusammenhang mit einem Antrag oder mit dem Leistungsbezug nur schwer schriftlich klären lassen bzw. ein persönliches Gespräch wesentlich zielführender ist. In der sogenannten „Vorladung“ muss das Verlangen des Leistungsträgers klar und unmissverständlich hervorgehen. Auch die Gründe für die Vorladung sind vom Leistungsträger darzulegen.
Kommt der Versicherte seiner Mitwirkungspflicht nach § 61 SGB I – also dem persönlichen Erscheinen – nicht nach, kann es zu den in § 66 SGB I beschriebenen Folgen der fehlenden Mitwirkung kommen.
Untersuchungen – § 62 SGB I
Nach § 62 SGB I soll sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers derjenige ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen unterziehen, wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, soweit diese für die Entscheidung über die Leistung erforderlich sind.
Mit dieser Rechtsvorschrift stellt der Gesetzgeber klar, dass Untersuchungen nicht verweigert werden können, wenn Sozialleistungen beantragt wurden oder bereits bezogen werden.
Die Regelung hat für die Gesetzliche Rentenversicherung dahingehend Bedeutung, dass beispielsweise im Falle einer Antragstellung auf eine Erwerbsminderungsrente ärztliche und/oder psychologische Untersuchungen eingeleitet werden können.
Für die Gesetzliche Krankenversicherung hat die Regelung unter anderem Bedeutung, wenn es um die Beurteilung einer weiter bestehenden Arbeitsunfähigkeit oder um die Beurteilung eines Leistungsantrags auf eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode geht. Für die Gesetzliche Krankenversicherung führt nach § 275 SGB V der Medizinische Dienst (MD) die Begutachtung und Beratung durch.
Die zuständige Krankenkasse darf nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 28.04.1977, Az. 2 RU 139/75 eine sozialmedizinische Untersuchung zur Überprüfung des Heilverlaufs und des Endes der Arbeitsunfähigkeit nicht veranlassen, wenn noch ein berufsgenossenschaftliches Heilverfahren läuft.
Bevor eine Untersuchung nach § 62 SGB I veranlasst wird, muss der zuständige Leistungsträger zunächst prüfen, ob der Sachverhalt nicht anderweitig – beispielsweise durch Befundberichte der behandelnden Ärzte – geklärt werden kann und es somit eine Alternative zu einer Untersuchung gibt.
Heilbehandlung – § 63 SGB I
Nach § 63 SGB I soll sich, wer wegen Krankheit oder Behinderungen Sozialleistungen beantragt oder erhält, auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers einer Heilbehandlung unterziehen, wenn zu erwarten ist, dass sie eine Besserung seines Gesundheitszustands herbeiführen oder eine Verschlechterung verhindern wird.
Mit dieser Regelung wurde der Grundstein für den Grundsatz „Rehabilitation vor Rente“ gelegt. Ist eine Besserung oder sogar eine Wiederherstellung des Gesundheitszustandes zu erwarten oder kann zumindest eine Verschlechterung abgewendet werden, muss der Versicherte sich einer Heilbehandlung entsprechend der Mitwirkungspflicht des § 63 SGB I unterziehen. Das heißt, dass eine Erwerbsminderungsrente erst dann bewilligt werden kann (sofern hierfür die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind), wenn eine Rehabilitationsmaßnahmen durchgeführt wurde oder im Vorfeld eine Rehabilitationsmaßnahme als nicht erfolgversprechend beurteilt wird.
Im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung hat die Mitwirkungspflicht nach § 63 SGB I im Zusammenhang mit einer Krankenhausbehandlung oder einer Behandlung in einer Rehabilitationseinrichtung Bedeutung. So sieht beispielsweise § 51 Abs. 1 SGB V vor, dass die Krankenkasse einen Versicherten im Krankengeldbezug zur Antragstellung auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation auffordern kann, wenn die Erwerbsfähigkeit nach gutachterlicher Feststellung erheblich gefährdet oder gemindert ist (s. Krankengeld | Aufforderungsrechte der Krankenkassen).
Im Bereich der Gesetzlichen Unfallversicherung hat die Mitwirkungspflicht nach § 63 SGB I im Zusammenhang mit dem Verletztengeld und den Verletzten- bzw. Unfallrenten Bedeutung.
Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 20.03.1981, Az. 8/8 a RU 47/80 darf die Besserung des Gesundheitszustands bei einer durchzuführenden Heilbehandlung im Sinne des § 63 SGB I nicht nur nach objektiven Maßstäben gemessen werden. Der Leistungsträger muss dabei auch berücksichtigen, ob der angestrebte Heilerfolg mit einem eventuellen irreparablen Körperschaden des Versicherten verbunden sein könnte. Es muss dabei auch bewertet werden, wie der Versicherte selbst den Heilerfolg und den Körperschaden bewertet. Es darf wegen einer unterlassenen Mitwirkung nach § 63 SGB I – also wegen einem Nichtantreten einer Heilbehandlung – zu keinem Leistungsentzug kommen, wenn es nach objektiven Gesichtspunkten nicht zweifelsfrei ist, dass der Heilerfolg den Körperschaden bei weitem überwiegt und die Vorstellung des Versicherten über seine körperliche Unversehrtheit in sich verständlich ist.
Insgesamt ist festzuhalten, dass die Mitwirkungspflicht nach § 63 SGB I insbesondere einen Präventionscharakter hat. Das heißt, dass der Versicherte vorrangig eine Heilbehandlung beanspruchen muss, bevor langfristige Geldleistungen bzw. Entgeltersatzleistungen gezahlt werden müssen.
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben – § 64 SGB I
Nach § 64 SGB I soll auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers an den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben teilnehmen, wer
- wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit,
- anerkannten Schädigungsfolgen oder
- wegen Arbeitslosigkeit
Sozialleistungen beantragt oder erhält, wenn bei angemessener Berücksichtigung seiner beruflichen Neigung und seiner Leistungsfähigkeit zu erwarten ist, dass sie seine Erwerbs- oder Vermittlungsfähigkeit auf Dauer fördern oder erhalten werden.
Mit § 64 SGB I werden die genannten Personengruppen aufgefordert, an Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (früher: Berufsfördernde Maßnahmen) teilzunehmen. Mit dieser Rechtsvorschrift zur Mitwirkungspflicht von Leistungsberechtigten wird erreicht, dass ein weiterer Leistungsfall – z. B. der Rentenfall im Sinne der Gesetzlichen Rentenversicherung – nicht eintritt und die Erwerbsfähigkeit auf Dauer gefördert bzw. erhalten wird. Gleiches gilt für die Vermittlungsfähigkeit.
Für die Gesetzliche Krankenversicherung hat diese Rechtsvorschrift keine Bedeutung.