Die Handlungsfähigkeit im Sozialversicherungsrecht nach § 36 SGB I
Mit der Rechtsvorschrift des § 36 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) wird die Handlungsfähigkeit im Sozialversicherungsrecht bzw. Sozialleistungsrecht geregelt. Mit dieser Rechtsvorschrift ermöglicht der Gesetzgeber auch Minderjährigen, Sozialleistungen zu beantragen, zu verfolgen und in Anspruch zu nehmen, ohne dass es einer Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters bedarf.
Handlungsfähigkeit ab vollendetem 15. Lebensjahr
Nach § 36 Abs. 1 SGB I können Anträge auf Sozialleistungen von allen gestellt und verfolgt werden sowie auch Sozialleistungen entgegengenommen werden, die das fünfzehnte Lebensjahr vollendet haben.
Zudem schreibt § 36 Abs. 1 SGB I vor, dass der Leistungsträger den gesetzlichen Vertreter über die Antragstellung und die erbrachten Sozialleistungen unterrichten soll.
Bis zur Einführung des Ersten Buches Sozialgesetzbuch am 01.01.1976 lag die Altersgrenze, ab der die Handlungsfähigkeit gegeben war, beim vollendeten 16. Lebensjahr. Diese Altersgrenze wurde für die Zeit ab dem 01.01.1976 auf das 15. Lebensjahr herabgesetzt.
Damit eine Handlungsfähigkeit nach § 36 Abs. 1 SGB I auch tatsächlich eintreten kann, muss der Minderjährige nach § 106 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) auch beschränkt geschäftsfähig sein. Das heißt, dass die Handlungsfähigkeit nicht gegeben ist, wenn es sich nach § 104 Nr. 2 BGB um einen geschäftsunfähigen Minderjährigen handelt. § 104 Nr. 2 BGB bestimmt, dass jemand dann geschäftsunfähig ist, wenn er sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern der Zustand seiner Natur nach nicht ein vorübergehender ist.
Neben der Handlungsfähigkeit, welche mit § 36 SGB I Minderjährigen ab dem vollendeten 15. Lebensjahr eingeräumt wird, können die gesetzlichen Vertreter des Minderjährigen selbstständig Leistungsanträge stellen und verfolgen. Das bedeutet, dass durch die Handlungsfähigkeit des Minderjährigen die gesetzliche Vertretungsmacht der gesetzlichen Vertreter nicht ausgeschlossen bzw. verdrängt wird.
Anträge auf Leistungen
Ein Minderjähriger kann ab dem vollendeten 15. Lebensjahr bei den Sozialleistungsträgern Leistungsanträge stellen. Die Sozialleistungen können uneingeschränkt beantragt werden. Hierbei kann es sich beispielsweise im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung um Anträge auf Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft, um Leistungen der Empfängnisverhütung und auf Kostenerstattungsanträge von Primärpräventionsleistungen handeln. Im Bereich der Gesetzlichen Rentenversicherung kommen beispielsweise Anträge auf Rentenleistungen (z. B. Waisenrenten) und Anträge auf Beitragszuschüsse in Betracht. Im Bereich der Sozialen Pflegeversicherung können Anträge auf Feststellung eines Pflegegrades und auf Pflegeleistungen gestellt werden.
Ohne Bedeutung für die Handlungsfähigkeit nach § 36 SGB I ist, aus welchem Versicherungsverhältnis der Leistungsanspruch abgeleitet ist. Es ist also irrelevant, ob der Anspruch auf Leistungen aus einer eigenen Mitgliedschaft oder z. B. aus einer Familienversicherung resultiert.
Sofern für den Beginn bzw. für den Leistungszeitraum der begehrten Leistung das Datum der Antragstellung maßgebend ist (z. B. Beginn der Pflegebedürftigkeit), ist die Antragstellung des Minderjährigen ab dem vollendeten 15. Lebensjahr maßgebend.
Stellt ein Minderjähriger ab dem vollendeten 15. Lebensjahr einen Antrag auf Sozialleistungen, muss dieser Antrag vom zuständigen Sozialleistungsträger entgegengenommen und bearbeitet werden. Das bedeutet, dass die Beurteilung des Leistungsanspruchs erfolgen muss. Der gesetzliche Vertreter muss bei der Stellung des Leistungsantrags hierfür keine Zustimmung erteilen.
Sollte bezüglich des gestellten Leistungsantrags ein schriftlicher Kontakt erforderlich sein, mit dem weitere Informationen eingeholt oder offene Fragen geklärt werden müssen, ist der Schriftwechsel ausschließlich mit dem minderjährigen Antragsteller zu führen.
Die Bescheiderteilung erfolgt ebenfalls gegenüber dem minderjährigen Antragsteller. Hierbei ist es ohne Bedeutung, ob es sich um einen negativen/ablehnenden oder einen positiven/bewilligenden Leistungsbescheid handelt.
Verfolgen von Leistungsanträgen
Der Gesetzgeber räumt den Minderjährigen ab dem vollendeten 15. Lebensjahr nicht nur das Recht ein, Leistungsanträge zu stellen. Von den Minderjährigen (ab dem vollendeten 15. Lebensjahr) können die Leistungsanträge auch verfolgt werden.
Das Verfolgen von Leistungsanträge bedeutet, dass gegen die Bescheide auch Rechtsmittel – Widerspruch, Klage, Berufung, Revision – eingelegt werden können, um die Leistungsansprüche rechtlich durchzusetzen. Sollte nach einem eingelegten Rechtsmittel dieses wieder zurückgenommen werden, ist dies allerdings nicht eigenständig vom Minderjährigen möglich. Hierfür ist dann die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters erforderlich (s. untern: Einschränkung der Handlungsfähigkeit).
Mit der Handlungsfähigkeit von Minderjährigen besteht auch die Möglichkeit bzw. das Recht, dass (nach § 13 SGB X und §§ 164 ff. BGB) Dritte mit der Verfolgung der Sozialleistungsanspräche bevollmächtigt werden können.
Entgegennahme von Leistungen
Mit der Handlungsfähigkeit von Minderjährigen ab dem vollendeten 15. Lebensjahr geht auch die Entgegennahme von Leistungen einher. Das heißt, dass der Minderjährige die Leistungen – im Rahmen des Dienst- oder Sachleistungsprinzips – in Anspruch nehmen kann bzw. Geldleistungen (z. B. Krankengeld, Pflegegeld, Rentenzahlungen) überwiesen bekommt.
Auch für den Empfang von Leistungen bedarf es keiner Zustimmung des gesetzlichen Vertreters, soweit die Handlungsfähigkeit (nach § 36 Abs. 2 SGB I) nicht eingeschränkt wurde.
Gesetzlicher Vertreter soll unterrichtet werden
Mit § 36 Abs. 1 Satz 2 SGB I wird beschrieben, dass der Sozialleistungsträger den gesetzlichen Vertreter des Minderjährigen unterrichten soll, wenn dieser Sozialleistungen beantragt hat und die Sozialleistungen erbracht wurden. Die Unterrichtung bezieht sich also auf die Fälle, in denen ein Antrag gestellt wurde, in denen eine Bewilligung der Leistung erfolgt und in denen die bewilligte Leistung wegfällt
Bei dieser rechtlichen Regelung handelt es sich um eine Soll-Vorschrift. Mit der Regelung wird erreicht, dass der gesetzliche Vertreter auch seine Möglichkeiten von der Einschränkung der Handlungsfähigkeit nach § 36 Abs. 2 SGB I wahrnehmen kann. Eine zwingende Verpflichtung für die Unterrichtung des gesetzlichen Vertreters besteht – da es sich um eine Soll-Vorschrift handelt – nicht. Dennoch hat die Unterrichtung grundsätzlich zu erfolgen, sofern keine besonderen Gründe dagegenstehen.
In der Praxis werden die gesetzlichen Vertreter in der Form unterrichtet, indem ihnen ein Duplikat des Bescheides zugestellt wird.
Sollte sich der Sozialversicherungsträger gegen eine Unterrichtung des gesetzlichen Vertreters entscheiden, wird dadurch die Leistungsgewährung nicht unwirksam.
Einschränkung der Handlungsfähigkeit möglich
Nach § 36 Abs. 2 SGB I kann die Handlungsfähigkeit vom gesetzlichen Vertreter des Minderjährigen durch eine schriftliche Erklärung gegenüber dem Sozialleistungsträger eingeschränkt werden.
Mit dieser gesetzlichen Regelung kann der gesetzliche Vertreter aktiv gegenüber dem Sozialleistungsträger die Handlungsfähigkeit des Minderjährigen einschränken. Dies kann beispielsweise beinhalten, dass der ab dem vollendeten 15. Lebensjahr Minderjährige ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters keine selbstständige Antragstellung vornehmen, keine Leistungen in Anspruch nehmen und keine Bescheide entgegennehmen kann. Die Handlungsfähigkeit kann entweder für einen, zwei oder alle drei genannten Bereiche eingeschränkt werden.
Wirksamkeit erlangt die Erklärung des gesetzlichen Vertreters mit dem Zugang beim Sozialleistungsträger.
Zustimmung zwingend erforderlich
Konkret wird nach § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB I die Handlungsfähigkeit für die Rücknahme von Anträgen, für den Verzicht auf Sozialleistungen und für die Entgegennahme von Darlehen eingeschränkt. In diesen Fällen muss stets der gesetzliche Vertreter seine Zustimmung erteilen.
Wurde vom Minderjährigen ein Antrag auf Sozialleistungen gestellt oder ein Rechtsmittel gegen einen Bescheid eingelegt, kann der Antrag bzw. das Rechtsmittel nicht ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters zurückgenommen werden. Das bedeutet, dass es erst mit der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens, welches durch die Antragstellung ausgelöst wurde, kommt. Eine eigenständige Rücknahme (vom Minderjährigen) ist daher nicht mehr möglich, auch wenn dieser aufgrund der Handlungsfähigkeit nach § 36 SGB I im Vorfeld einen Antrag stellen konnte. Dies gilt neben der Rücknahme von Anträgen und für evtl. eingelegte Widersprüche, Klagen, Berufungen und Revisionen.
Darüber hinaus ist eine Zustimmung des gesetzlichen Vertreters bei Verzicht auf Sozialleistungen und die Entgegennahme von Darlehen erforderlich.
Sollte die Zustimmung für die Rücknahme von Anträgen (und auch eingelegten Rechtsmitteln), für den Verzicht auf Sozialleistungen und die Entgegennahme von Darlehen vom gesetzlichen Vertreter nicht erfolgen, ist die Rechtshandlung des Minderjährigen in diesen Punkten unwirksam.