Beschluss Bundesverfassungsgericht vom 11.04.2017, Az. 1 BvR 452/17

Ein über den GKV-Katalog hinausgehender Anspruch kann durch eine lebensbedrohliche Situation begründet werden.

Der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 11.04.2017 erfolgte und am 11.05.2017 veröffentlichte Beschluss (Az. 1 BvR 452/17) legt fest, dass über den im Leistungskatalog der Krankenkassen festgelegten gesetzlichen Anspruch hinaus ein „verfassungsrechtlicher Anspruch“ auf Krankenversorgung bestehen kann. Ansprüche in dieser Form sind über das Grundgesetz herzuleiten und in aller Regel als Ausnahme zu betrachten. Um hierüber Leistungen zu beanspruchen sind auch ganz spezielle und entsprechend hohe Anforderungen anzulegen.

Sind beim Vorliegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung die Leistungen des gesetzlichen Leistungskataloges ausgeschöpft oder liegen solche Behandlungsmethoden nicht vor und verspricht eine andere Behandlungsmethode Aussicht auf Besserung, kann durchaus grundsätzlich ein verfassungsunmittelbarer Anspruch auf Krankenversorgung bestehen.

Die 1. Kammer des Ersten Senats des Gerichts spricht hier aber ausdrücklich vom Ausnahmecharakter eines solchen Leistungsanspruches, man könne diesen auch bei großzügiger Auslegung der Verfassung nicht erweitern. Erst bei einer „notstandsähnlichen Situation“ würde eine hierfür notwendige Gefährdungslage gegeben sein. Nach Ansicht des Gerichtes ist allein das „Vorliegen einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage“ Anknüpfungspunkt für einen solchen verfassungsrechtlich gebotenen Anspruch

„Off-Label-Use“-Therapie durch Krankenkasse abgelehnt

Zu der Entscheidung durch das BVerfG führt der Fall einer Frau, bei der eine Autoimmunkrankheit mit verschiedenen Folgeerkrankungen und Komplikationen, speziell einer bereits mehrfach aufgetretenen Zungenschwellung diagnostiziert worden war. Diese von Zeit zu Zeit auftretende Zungenschwellung führte bei der Erkrankten jeweils zu einer großen Erstickungsgefahr, weshalb sie ständig ein Notfallset mit sich führte.

Bei ihrer zuständigen Krankenkasse beantragte die Klageführerin zur Behandlung der Erkrankung die Übernahme der Kosten für eine Immunglobulintherapie. Die angegangene Krankenkasse war jedoch der Meinung, dass die Voraussetzungen für einen sogenannten Off-Label-Use der Immunglobulie zur Behandlung der Erkrankung ihrer Versicherten nicht zugelassen seien und lehnte die Kostenübernahme mangels vorliegender Voraussetzungen ab. Das zuständige Sozialgericht gab jedoch der Versicherten Recht und verurteilte die angegangene Krankenkasse zur Übernahme der Kosten. Die Kasse legte daraufhin Berufung beim Landessozialgericht (LSG) ein, welches die Berufung aber zurückwies. Das Bundessozialgericht (BSG) hob dann, im Rahmen der Revision die Urteile des Sozialgerichts und Landessozialgerichts auf; die Klage wurde abgewiesen.

Die Versicherte führte dann eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht hinsichtlich eines ihr zustehenden Anspruches auf die strittige Behandlung und begründete diese damit, dass in ihrem Fall eine sehr seltene und auch lebensbedrohliche Erkrankung vorliege. Des Weiteren stünden hier keine etablierten Behandlungsmethoden und auch keine zugelassenen Arzneimittel zur Verfügung, die unmittelbar zur Anwendung kommen könnten.

Das BVerfG war jedoch der Meinung, dass die Verfassungsbeschwerde im vorliegenden Fall unzulässig ist und nahm diese nicht zur Entscheidung an.

Ausführungen des Gerichtes

Die Beschwerdeführerin hatte sich im Laufe des Verfahrens mehrfach auf einen Beschluss des BVerfG vom 06.12.2005 (BVerfG 115, 25) berufen, wonach aus der allgemeinen Handlungsfreiheit, dem Sozialstaatsprinzip und auch dem Grundrecht auf Leben ein verfassungsunmittelbarer Anspruch auf Krankenversorgung hergeleitet werden kann, wenn eine lebensbedrohliche oder auch immer wieder tödlich verlaufende Erkrankung vorläge. Dies aber nur dann, wenn im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen keine entsprechenden Behandlungsmethoden vorliegen und die vom Erkrankten gewählte Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder mindestens eine merkliche Aussicht auf eine positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf in Aussicht gestellt ist.

Die Richter waren allerdings der Ansicht, dass es sich bei einem solchen Leistungsanspruch um einen Ausnahmefall handelt, dessen Ausnahmecharakter man nicht dadurch aushebeln sollte, indem man die Auslegung der Verfassung großzügig erweitert.

Weiter führten die Richter aus: Erst wenn eine „notstandsähnliche Situation“ in der ein „erheblicher Zeitdruck für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist" vorliege, würde auch eine notwendige Gefährdungslage vorliegen. Deswegen sei alleine das Vorliegen einer individuellen Notlage, die sich durch unmittelbare Lebensgefahr darstellt, als Anknüpfungspunkt für einen derartigen verfassungsrechtlich gebotenen Anspruch zu sehen.

Das Gericht war deshalb der Meinung, dass die Beschwerdeführerin, auch hinsichtlich der genannten Grundsätze, es nicht hinreichend begründen konnte, dass eine Grundrechtsverletzung vorgelegen habe. Ein entsprechender Anspruch werde durch ein zugelassenes Mittel oder Medikament, das wahrscheinlich tödliche Komplikationen hinreichend zuverlässig verhindert, ausgeschlossen. Hiervon könne man ausgehen, wenn man die von den Fachgerichten im Ausgangsverfahren getroffenen Feststellungen berücksichtige. Ausgehen könne man auch davon, dass bei der Ermittlung des Sachstandes keinerlei verfassungsrechtlich relevante Fehler festzustellen sind.

Ausschlaggebend und letztendlich entscheidend für einen verfassungsrechtlichen Anspruch ist die Begründung durch eine von naher Lebensgefahr geprägte notstandsähnliche Lage. Liegt keine notstandsähnliche Lage vor, ist in keiner Weise zu begründen, dass der gesetzgeberische Spielraum hinsichtlich der Ausgestaltung des Leistungsrechts der Gesetzlichen Krankenversicherung durch einen unmittelbaren verfassungsrechtlich abgeleiteten Anspruch abgelöst oder übergangen werden kann.

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