Bundesverfassungsgericht vom 06.12.2005, Az.: 1 BvR 347/98

Am 06.12.2005 hatte das Bundesverfassungsgericht unter dem Aktenzeichen 1 BvR 347/98 per Beschluss über eine Verfassungsbeschwerde entschieden, im Rahmen derer der Beschwerdeführer von der Gesetzlichen Krankenversicherung die Übernahme der Behandlungskosten für eine neue Behandlungsmethode erreichen wollte. Der Beschluss wird aufgrund des Entscheidungsdatums oft als „Nikolausurteil“ bezeichnet und ist für die Kostenübernahme von neuen Behandlungsmethoden richtungweisend.

Die Beschwerde

Beschwerde hatte ein Versicherter eingelegt, der an der Duchenne´schen Muskeldystrophie leidet. Diese Krankheit tritt mit einer Häufigkeit von 1 : 3.500 äußerst selten und nur beim männlichen Geschlecht auf. Die Duchenne´schen Muskeldystrophie manifestiert sich bereits in den ersten Lebensjahren und führt später – etwa zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr – zu einer zunehmenden Ateminsuffizienz. Ebenfalls gehen mit der Duchenne´schen Muskeldystrophie eine Wirbelsäulendeformierung und Bewegungseinschränkungen einher. Auch eine Herzmuskelerkrankung wird durch die Muskeldystrophie ausgelöst.

Bereits seit dem Jahr 1992 befindet sich der Beschwerdeführer in fachärztlicher Behandlung. Im Rahmen dieser Behandlung werden hochfrequente Schwingungen angewandt und homöopathische Mittel, Zytoplasma und Thymuspeptiden, gegeben. Als Behandlungskosten wendeten die Eltern einen Betrag in Höhe von 10.000 DM auf, die die zuständige Krankenkasse – eine Ersatzkasse – erstatten sollte. Obwohl die behandelnden Ärzte und auch die Ärzte der Orthopädischen Klinik der Technischen Hochschule aufgrund der angewandten Therapie eine nachhaltige Verzögerung oder sogar eine Heilung bestätigten, die erreicht werden könnte, lehnte die Krankenkasse die Kostenübernahme hierfür ab. Die Krankenkasse begründete die Ablehnung damit, dass kein wissenschaftlich nachgewiesener Erfolg der angewandten Behandlungsmethoden nachgewiesen sei.

Den sozialgerichtlichen Klageweg, den der Versicherte gegen die ablehnende Entscheidung beschritt, blieb bis zur letzten sozialgerichtlichen Instanz – dem Bundessozialgericht – erfolglos. Daher wurde Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. Beim Bundesverfassungsgericht entschied der Erste Senat über die Verfassungsbeschwerde.

Verfassungsbeschwerde war erfolgreich

Mit dem Nikolausurteil – Beschluss vom 06.12.2005, Az. 1 BvR 347/98 – bestätigte das Bundesverfassungsgericht für den Versicherten einen Anspruch auf Kostenübernahme für die außervertragliche Behandlungsmethode zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung. Das Urteil des Bundessozialgerichts wurde aufgehoben. In dem Beschluss wird ausgeführt, dass es mit dem Grundrecht auf Leben, dem Sozialstaatsprinzip und der grundgesetzlich garantierten allgemeinen Handlungsfreiheit nicht vereinbar ist, die Kosten zu Lasten der GKV nicht zu übernehmen. Allerdings ist dies nur dann der Fall, wenn für eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine Behandlung nach anerkanntem und medizinischem Standard nicht zur Verfügung steht. Es darf dann die Kostenübernahme nicht ausgeschlossen werden, wenn „eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“.

Hierzu führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass es mit der allgemeinen Handlungsfreiheit, die Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) regelt, nicht vereinbar ist, einen Einzelnen, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind, der Versicherungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung zu unterwerfen und zugleich für die geleisteten Beiträge eine Leistung zuzusagen. Es ist nicht möglich, wenn keine schulmedizinischen Behandlungsmethoden vorliegen und ein Versicherter an einer lebensbedrohlichen oder sogar tödlich verlaufenden Krankheit erkrankt ist, ihn für bestimmte Behandlungsmethoden auszuschließen und ihn auf die Behandlungsfinanzierung außerhalb der GKV zu verweisen. Voraussetzung, dass eine Kostenübernahme durch die GKV erfolgen kann, ist jedoch, dass bei der Behandlungsmethode, die der Versicherte wählt, eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf gegeben ist.

Bei der Duchenne´schen Muskeldystrophie, an der der Beschwerdeführer leidet, steht nur das symptomatische Therapiespektrum zur Verfügung. Mit wissenschaftlichen Methoden kann nicht unmittelbar spürbar auf die Krankheit und deren Verlauf eingewirkt werden.

Eine Vereinbarkeit der Leistungsablehnung ist auch nicht mit der Schutzpflicht des Staates gegeben. Denn übernimmt der Staat mit dem System der GKV für die Versicherten die Verantwortung für Leben und körperliche Unversehrtheit, muss dieser auch für Erkrankungen, die lebensbedrohlich oder regelmäßig tödlich verlaufen, die Kostenübernahme zum Kernbereich dieser Leistungspflicht machen. Die Kostenübernahme wird von der in Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG geforderten Mindestversorgung erfasst.

Sollten die Sozialgerichte in derartigen Fällen, bei welchen es um eine Kostenübernahme für neue Behandlungsmethoden geht, angerufen werden, ist zu prüfen, ob es im konkreten Fall eine nicht ganz entfernt liegenden Heilungserfolg bzw. eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf geben könnte. Hier ist konkret die fachliche Einschätzung des Arztes zu prüfen.

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